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G E R D ' s

E L E V E N T Y

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Zweite Person Singular

Thomas Buchtipp

Die jüngsten Demokratiebewegungen haben nachhaltig darauf hingewiesen, dass es in etlichen arabischen Ländern nicht nur reiche Potentaten, einflussreiche Familienclans und eine große Schar von Tagelöhnern gibt, sondern auch eine wirtschaftlich gut situierte, gebildete Mittelschicht und junge Leute, die von ihrer Kultur ebenso beeinflusst sind wie von der westlichen Moderne.

Zu ihnen gehören die beiden Hauptfiguren des Romans.

Die Menschen, von denen der Autor erzählt, sind wie er selbst israelische Araber. Palästinenser mit israelischem Pass stellen 20 Prozent der Gesamtbevölkerung Israels. Sie leben in einem schwierigen Spagat zwischen zwei Welten: der jüdischen Mehrheit und der palästinensischen Minderheit. Wohin gehören sie ? Nach ihrer Herkunft und Kultur zu den Arabern ? Oder nach Wohnort und Staatsangehörigkeit zu den Israelis ?

Kashuas neuer Roman hat zwei arabische Hauptfiguren: einen namenlosen Rechtsanwalt mit Kanzlei in Westjerusalem, dem jüdischen Teil der Stadt und den Sozialarbeiter Amir, der nachts einen im Koma liegenden jungen Israeli pflegt, um sich etwas dazuzuverdienen.

Der Rechtsanwalt hat viel erreicht in seinem Leben. Die Geschäfte laufen gut, er hat eine berufstätige Frau, eine Tochter, ein Haus, einen sehr teuren Wagen, die richtigen Freunde, mit denen er teuren alten Whisky trinkt und Sushi isst. Doch glücklich ist er nicht, er und seine Frau leben aneinander vorbei und es plagen ihn Minderwertigkeitsgefühle. Er orientiert sich an den Juden, imitiert ihren Lebensstil, schafft sich ihre Statussymbole an, möchte so selbstsicher und gebildet sein wie sie. Regelmäßig kauft er sich Klassiker der Weltliteratur, um sich ihren Bildungskanon anzueignen.

Ausgerechnet bei der Lektüre von Tolstois "Kreutzersonate" fällt ihm aus dem Buch ein Zettel entgegen: Er ist offenbar an einen Mann gerichtet und geschrieben ist er - in der Handschrift seiner Frau ! Seine Identität scheint sich aufzulösen: Aus dem westlich orientierten, modernen Anwalt, der rückständige arabische Familientraditionen verachtet, wird ein rasend Eifersüchtiger, der nur noch einen Lebensinhalt hat: herauszufinden, wer jener Mann ist, mit dem seine Frau eine Affäre hat. Statt sie zur Rede zu stellen, verfolgt und bespitzelt er sie wie besessen.

Amir hat nicht so viel Glück gehabt wie der Rechtsanwalt. Er konnte keinen der begehrten Studienplätze für Medizin oder Jura ergattern, wie ihn sich arabische Eltern für den sozialen Aufstieg ihrer Kinder wünschen. So blieb ihm nur das Fach Sozialarbeit und danach ein schlecht bezahlter Job. Amirs Lebenslauf zeigt, dass arabische Israelis noch immer Bürger zweiter Klasse sind. Die Arbeitslosigkeit unter arabisch-israelischen Akademikern ist fünfmal so hoch wie die unter ihren jüdischen Kommilitonen. Amir möchte nebenher kellnern, doch die Jobs mit Trinkgeld kriegen nur junge Israelis - Palästinenser schuften in der Küche, ohne Kontakt zu den Gästen, ohne Trinkgeld.

In den Nächten bei dem jungen Mann im Koma kann Amir kaum schlafen. Es dauert nicht lange, da hört er dessen CDs mit israelischer und westlicher Pop- und Rockmusik, liest seine Bücher, trägt manchmal Kleider des Schwerstkranken, die dieser nie mehr anziehen wird. Er entdeckt dessen Fotokamera und die Bilder, die er gemacht hat, beginnt sich selbst das Fotografieren beizubringen, möchte eine Kunstakademie besuchen. Aber Amir will kein Alibi-Araber, kein Quoten-Palästinenser an der berühmten Bezalel sein - er will aufgenommen werden, weil er gut ist ! Amir will, wie der Rechtsanwalt, dazugehören zur israelischen Gesellschaft, nicht mehr von ihr misstrauisch beäugt werden. So kommt er auf eine unglaubliche Idee: Er schlüpft in die Identität des Mannes, den er pflegt, der etwa so alt ist wie er.

 

Es geht um das "Dazwischen", um die brüchige Identität der beiden Figuren und die Schwierigkeiten, arabische Herkunft und Kultur mit einem Leben in der jüdischen Mehrheitsgesellschaft zu vereinbaren. Sayed Kashua beschreibt ergreifend die ambivalente Existenz gebildeter israelischer Palästinenser, ihr Dilemma als doppelte Minderheit. Sie sind weder in der israelischen Mehrheitsgesellschaft noch in der palästinensischen Gemeinschaft ganz zuhause. Ihr "Anderssein" wird auf beiden Seiten sofort registriert. Aus dieser speziellen Perspektive, die sich Kashuas eigener Lebenserfahrung verdankt, ist ihm ein großartiger Roman über das gegenwärtige Israel gelungen. Dicht an der Wirklichkeit und kunstvoll einfach erzählt er vom anstrengenden Dasein im Spagat. In klaren Sätzen vermittelt Kashua die Enttäuschungen, Phantasien und Ängste einer gut ausgebildeten arabischen Mittelschicht in Israel. Er macht in knappen Dialogen und inneren Monologen ihre Zerrissenheit und Einsamkeit deutlich. Mal sind sie wütend, mal melancholisch, immer aber sehen sie sich mit den Augen der anderen.



Kashua, * 1975, arbeitet als Kolumnist für Ha'ir und Haaretz.
Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern im palästinensischen Teil des Dorfes Beit Safafa, einem jüdischen Viertel bei Jerusalem. Er weiß, wovon er redet.

Kashua schreibt auf Hebräisch und erreicht so die israelischen Leser: jedes seiner Bücher wurde ein Bestseller. Er gehört zu den besten Schriftstellern Israels, schreibt witzig-melancholische Kolumnen in israelischen Zeitungen und ist der Drehbuchautor der Kultserie "Avodah Aravit" ("Arabische Arbeit", im Hebräischen auch ein Ausdruck für Pfusch). Die Sitcom erzählt mit Woody Allen-Humor von den Alltags-Nöten eines arabischen Israeli und läuft mit arabischen Untertiteln höchst erfolgreich im israelischen Fernsehen. Er hat es geschafft, "eine arabische Familie in israelische Wohnzimmer zu bringen". Sayed schreibt gerade an der dritten Staffel.

Sein Ton ist bisweilen bitter, mitunter scharf wie ein Rasiermesser, dann wieder selbstironisch und voll schwarzem Humor. Seine Diskussionsveranstaltungen mit israelischen Soldaten sind mutig - ebenso offen schreibt er auch über seine eigenen Ängste und Unsicherheiten. Manchmal verzweifelt er fast daran, die Kluft zwischen den Kulturen zu überbrücken. Da geht es ihm nicht viel anders als seinen Helden.

Sayed Kashua, Zweite Person Singular ist am 9. April 2011 im Berlin Verlag, Berlin erschienen, umfasst 394 Seiten und ist unter der ISBN 9783827010131 um 22,70 Euro im österreichischen Buchhandel erhältlich.

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