Die
jüngsten Demokratiebewegungen haben nachhaltig
darauf hingewiesen, dass es in etlichen arabischen
Ländern nicht nur reiche Potentaten,
einflussreiche Familienclans und eine große
Schar von Tagelöhnern gibt, sondern auch eine
wirtschaftlich gut situierte, gebildete
Mittelschicht und junge Leute, die von ihrer Kultur
ebenso beeinflusst sind wie von der westlichen
Moderne.
Zu
ihnen gehören die beiden Hauptfiguren des
Romans.
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Die
Menschen, von denen der Autor
erzählt, sind wie er selbst
israelische Araber. Palästinenser mit
israelischem Pass stellen 20 Prozent der
Gesamtbevölkerung Israels. Sie leben
in einem schwierigen Spagat zwischen zwei
Welten: der jüdischen Mehrheit und
der palästinensischen Minderheit.
Wohin gehören sie ? Nach ihrer
Herkunft und Kultur zu den Arabern ? Oder
nach Wohnort und Staatsangehörigkeit
zu den Israelis ?
Kashuas
neuer Roman hat zwei arabische
Hauptfiguren: einen namenlosen
Rechtsanwalt mit Kanzlei in Westjerusalem,
dem jüdischen Teil der Stadt und den
Sozialarbeiter Amir, der nachts einen im
Koma liegenden jungen Israeli pflegt, um
sich etwas dazuzuverdienen.
Der
Rechtsanwalt hat viel erreicht in seinem
Leben. Die Geschäfte laufen gut, er
hat eine berufstätige Frau, eine
Tochter, ein Haus, einen sehr teuren
Wagen, die richtigen Freunde, mit denen er
teuren alten Whisky trinkt und Sushi isst.
Doch glücklich ist er nicht, er und
seine Frau leben aneinander vorbei und es
plagen ihn Minderwertigkeitsgefühle.
Er orientiert sich an den Juden, imitiert
ihren Lebensstil, schafft sich ihre
Statussymbole an, möchte so
selbstsicher und gebildet sein wie sie.
Regelmäßig kauft er sich
Klassiker der Weltliteratur, um sich ihren
Bildungskanon anzueignen.
Ausgerechnet
bei der Lektüre von Tolstois
"Kreutzersonate" fällt ihm aus dem
Buch ein Zettel entgegen: Er ist offenbar
an einen Mann gerichtet und geschrieben
ist er - in der Handschrift seiner Frau !
Seine Identität scheint sich
aufzulösen: Aus dem westlich
orientierten, modernen Anwalt, der
rückständige arabische
Familientraditionen verachtet, wird ein
rasend Eifersüchtiger, der nur noch
einen Lebensinhalt hat: herauszufinden,
wer jener Mann ist, mit dem seine Frau
eine Affäre hat. Statt sie zur Rede
zu stellen, verfolgt und bespitzelt er sie
wie besessen.
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Amir
hat nicht so viel Glück gehabt wie der
Rechtsanwalt. Er konnte keinen der begehrten
Studienplätze für Medizin oder Jura
ergattern, wie ihn sich arabische Eltern für
den sozialen Aufstieg ihrer Kinder wünschen.
So blieb ihm nur das Fach Sozialarbeit und danach
ein schlecht bezahlter Job. Amirs Lebenslauf zeigt,
dass arabische Israelis noch immer Bürger
zweiter Klasse sind. Die Arbeitslosigkeit unter
arabisch-israelischen Akademikern ist fünfmal
so hoch wie die unter ihren jüdischen
Kommilitonen. Amir möchte nebenher kellnern,
doch die Jobs mit Trinkgeld kriegen nur junge
Israelis - Palästinenser schuften in der
Küche, ohne Kontakt zu den Gästen, ohne
Trinkgeld.
In
den Nächten bei dem jungen Mann im Koma kann
Amir kaum schlafen. Es dauert nicht lange, da
hört er dessen CDs mit israelischer und
westlicher Pop- und Rockmusik, liest seine
Bücher, trägt manchmal Kleider des
Schwerstkranken, die dieser nie mehr anziehen wird.
Er entdeckt dessen Fotokamera und die Bilder, die
er gemacht hat, beginnt sich selbst das
Fotografieren beizubringen, möchte eine
Kunstakademie besuchen. Aber Amir will kein
Alibi-Araber, kein Quoten-Palästinenser an der
berühmten Bezalel sein - er will aufgenommen
werden, weil er gut ist ! Amir will, wie der
Rechtsanwalt, dazugehören zur israelischen
Gesellschaft, nicht mehr von ihr misstrauisch
beäugt werden. So kommt er auf eine
unglaubliche Idee: Er schlüpft in die
Identität des Mannes, den er pflegt, der etwa
so alt ist wie er.
Es
geht um das "Dazwischen", um die brüchige
Identität der beiden Figuren und die
Schwierigkeiten, arabische Herkunft und Kultur mit
einem Leben in der jüdischen
Mehrheitsgesellschaft zu vereinbaren. Sayed Kashua
beschreibt ergreifend die ambivalente Existenz
gebildeter israelischer Palästinenser, ihr
Dilemma als doppelte Minderheit. Sie sind weder in
der israelischen Mehrheitsgesellschaft noch in der
palästinensischen Gemeinschaft ganz zuhause.
Ihr "Anderssein" wird auf beiden Seiten sofort
registriert. Aus dieser speziellen Perspektive, die
sich Kashuas eigener Lebenserfahrung verdankt, ist
ihm ein großartiger Roman über das
gegenwärtige Israel gelungen. Dicht an der
Wirklichkeit und kunstvoll einfach erzählt er
vom anstrengenden Dasein im Spagat. In klaren
Sätzen vermittelt Kashua die
Enttäuschungen, Phantasien und Ängste
einer gut ausgebildeten arabischen Mittelschicht in
Israel. Er macht in knappen Dialogen und inneren
Monologen ihre Zerrissenheit und Einsamkeit
deutlich. Mal sind sie wütend, mal
melancholisch, immer aber sehen sie sich mit den
Augen der anderen.
Kashua, * 1975, arbeitet als Kolumnist für
Ha'ir und Haaretz.
Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern
im palästinensischen Teil des Dorfes Beit
Safafa, einem jüdischen Viertel bei Jerusalem.
Er weiß, wovon er redet.
Kashua
schreibt auf Hebräisch und erreicht so die
israelischen Leser: jedes seiner Bücher wurde
ein Bestseller. Er gehört zu den besten
Schriftstellern Israels, schreibt
witzig-melancholische Kolumnen in israelischen
Zeitungen und ist der Drehbuchautor der Kultserie
"Avodah Aravit" ("Arabische Arbeit", im
Hebräischen auch ein Ausdruck für
Pfusch). Die Sitcom erzählt mit Woody
Allen-Humor von den Alltags-Nöten eines
arabischen Israeli und läuft mit arabischen
Untertiteln höchst erfolgreich im israelischen
Fernsehen. Er hat es geschafft, "eine arabische
Familie in israelische Wohnzimmer zu bringen".
Sayed schreibt gerade an der dritten
Staffel.
Sein
Ton ist bisweilen bitter, mitunter scharf wie ein
Rasiermesser, dann wieder selbstironisch und voll
schwarzem Humor. Seine Diskussionsveranstaltungen
mit israelischen Soldaten sind mutig - ebenso offen
schreibt er auch über seine eigenen
Ängste und Unsicherheiten. Manchmal
verzweifelt er fast daran, die Kluft zwischen den
Kulturen zu überbrücken. Da geht es ihm
nicht viel anders als seinen Helden.
Sayed
Kashua, Zweite Person Singular ist am 9. April
2011 im Berlin Verlag, Berlin erschienen, umfasst
394 Seiten und ist unter der ISBN 9783827010131 um
22,70 Euro im österreichischen Buchhandel
erhältlich.
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