|

|
|
An
Hand eines Buchtipps hat uns Thomas einen
Beitrag zum Themenkreis des
Universalismus
bereitgestellt.
Hier
dieser zum Einlesen in die Materie. In der
nächsten Zeitungsausgabe finden sich
dann Anmerkungen unserer Redaktion,
zusammen mit diesem Beitrag als Impuls zum
Nachdenken und Diskutieren.
.
Gerade
jetzt eine große Verteidigung des
Universalismus zu schreiben, erscheint so
zwingend wie waghalsig.
Zwingend,
weil die Idee ja theoretisch immer noch
gut ist, waghalsig, weil die Defizite der
Ordnungen, die sich auf den Universalismus
berufen, so offen zutage liegen. Viele
Bürgerinnen und Bürger mit
Migrationshintergrund erleben Tag für
Tag, dass vieles eben doch nicht so
universal gilt, sondern
uneingeschränkt höchstens
für die Mitglieder der
Mehrheitsgesellschaften. Man
übertreibt nicht, wenn man
feststellt, dass damit nicht weniger als
die Grundfesten der liberal-demokratischen
westlichen Ordnung
infrage stehen.
Gewagt
hat die Verteidigung jetzt der 1979
geborene deutsch-israelische Philosoph
Omri Boehm, der an der renommierten New
Yorker New School for Social Research
lehrt. Bekannt wurde er vor gut zwei
Jahren mit seinem Buch Israel - eine
Utopie, in dem er zur Lösung
des Israel-Palästina-Konflikts einen
föderalen, binationalen Staat Israel
vorschlug, eine Republik
Haifa.
Sein
neues Buch trägt den Titel
Radikaler Universalismus - Jenseits
von Identität.
Das
- man ahnt es -, was in westlichen
liberalen Demokratien unter Universalismus
verstanden wird, ist für Omri Boehm
bloß noch die leere Hülse
des Begriffs.
Die
Liberalen samt ihren berühmtesten
Theoretikern von John Dewey und John Rawls
bis Richard Rorty und Mark Lilla huldigten
einem falschen, nur auf
individuelle Rechte fixierten
Universalismus, der in Wahrheit nur ihren
eigenen Interessen diente. Die
identitäre Linke wiederum
habe mit diesem falschen Universalismus
mehr gemein, als sie sich eingestehen
würde. Mit ihrem partikularistischen
Fokus auf Identität betreibe sie auf
ihre eigene Weise die
Zerstörung des Begriffs der
Menschheit.
.
Dagegen
setzt Boehm das, was er den wahren
Universalismus nennt, den er in drei
schwungvollen Kapiteln aus drei
berühmten Quellen der Ideengeschichte
destilliert:
1.
der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung und der
Diskussion über Sklaverei und
Bürgerrechte der
Afroamerikaner;
2.
aus Kants Schriften, insbesondere dem
Aufsatz Was ist
Aufklärung? (die Ideen des
Philosophen verteidigt Boehm
leidenschaftlich gegen dessen jüngst
viel thematisierten rassistischen
Äußerungen); und
3.
aus der Erzählung von der Opferung
Isaaks im 1. Buch Mose im Alten
Testament.
|
|
|
|
|
Am
dritten und kürzesten Kapitel des Buches
lässt sich gut zeigen, worum es Boehm genau
geht. Es beginnt mit Kants berühmter Antwort
auf die Frage Was ist Aufklärung
?:
Aufklärung,
schrieb Kant 1784, ist der Ausgang des
Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit, Unmündigkeit wiederum
ist für Kant das Unvermögen, sich
seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu
bedienen. Böhm aber will es noch einmal
ganz genau wissen: Was soll das eigentlich
heißen, sich seines Verstandes zu
bedienen ? Mit der ersten, negativistischen
Antwort Kants, dass selbst denken eben vor allem
bedeute, seine Gedanken nicht irgendeiner
Autorität zu unterwerfen, ist es für
Boehm nicht getan.
Die
Definition Kants, auf die es Boehm eher ankommt,
läuft darauf hinaus, dass die
schädlichste Form der Unmündigkeit nicht
einfach Nichtdenken oder das Delegieren des eigenen
Denkens ist, sondern eine Denkweise, bei der
wir unseren Verstand auf tote oder mechanische
Weise gebrauchen: Satzungen und
Formeln, so Kant, sind die
Fußschellen einer immerwährenden
Unmündigkeit.
In
Bezug auf die Frage, was dies nun für Boehms
Rechtfertigung seines radikalen Universalismus
bedeutet, wird es dann allerdings wieder heikler.
Denn Boehm schließt sich Kants
Überzeugung an, dass Aufklärung und
Selbstdenken dieser anspruchsvollen Art -
angesichts der Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit -
doch wieder erst durch einige wenige erreicht
werden muss, deren Beispiel dann gefolgt werden
kann. Das aber, Boehm sieht es sofort, ist nichts
anderes als eine Form von Prophetie, die
Vermittlung von Wahrheit durch Auserwählte.
Und war und ist das nicht genau die Art von
Kommunikation, die die Aufklärung gerade
überwinden wollte?
Was
nun?
Boehm
versucht eine neue Definition dessen, was wir unter
Prophetie verstehen sollten. Nach dem Motto: Wenn
die Begriffe nicht passen, haben wir sie bisher nur
falsch verstanden. Nach einer schwungvollen
Lektüre des Dekalogs und der Geschichte von
Abrahams Opferung seines Sohnes Isaak (Genesis 22,
1-19) sowie von Maimonides' Interpretation der
beiden Bibelstellen in seinem Buch
Führer der Unschlüssigen
steht für Boehm fest: Die höchste Form
der Prophetie ist nicht die von Mose, der den
Menschen einfach Gottes Gesetz verkündet,
sondern die Abrahams.
Die
übliche Deutung der Opferung Isaaks geht von
einem frommen Abraham aus, der bereit ist, seinen
Sohn zu opfern und dann von einem Engel aufgehalten
wird. Soll heißen: Der Wille ist Gott genug,
die grausame Tat ist nicht nötig. Boehm betont
dagegen textkritisch, dass die Engelstelle
später hinzugefügt wurde. Lässt man
sie weg, trifft nicht mehr Gott die Entscheidung,
Isaak am Leben zu lassen und stattdessen einen
Widder zu opfern, sondern Abraham selbst. Für
Boehm gehorcht er an dieser Stelle einer
moralischen Autorität, die noch über Gott
steht: der Gerechtigkeit.
Das
Beharren darauf, so Boehm, dass die
Gerechtigkeit jede Autorität
übersteigt, sei Abrahams ganz eigene
Neuerung. Mithin bestehe die wesentliche Behauptung
und entscheidende geistige Innovation des ethischen
Monotheismus auch nicht darin, dass es nur eine
einzige wahre Gottheit gebe, sondern eben darin,
dass selbst diese einzig wahre Gottheit dem
Moralgesetz unterworfen sei. Anders gesagt:
Die Bibel hat mit Boehm eine universelle Idee des
Menschen als einem Wesen, das für das
absolute Gesetz offen ist, für das
es aber keinen Gott mehr braucht, nicht mal nur
einen einzigen. Man muss nicht gläubig sein,
um das für erstaunlich zu halten.
Trotzdem
bleibt auch dem wohlwollenden Leser der Eindruck,
dass das Buch höchstens nur ein halbes ist.
Der Versuch, originell und mutig gegen den
grassierenden Partikularismus - die dunkle Seite
der Identitätspolitik - zu argumentieren, ist
ehrenwert und nötig. Eine so stichfeste
Begründung für den radikalen
Universalismus, wie Böhm zu liefern
vorgibt, gelingt ihm aber leider nicht.
Die
(stark von Kant inspirierte) Idee, einer
metaphysischen, vollkommenen Idee von Gerechtigkeit
in uns und über uns allen ist sehr schön,
bleibt letztlich aber doch einen Hauch zu
nebulös. Und ein klassischer Fehlschluss von
einem Sollen auf ein Müssen. Man könnte
umgekehrt einwenden: Merkwürdig aufwendige
Systeme wie Glauben, Religion oder der Rechtsstaat
hat man sich gerade deshalb ausgedacht, um
Gerechtigkeit ethisch plausibler und faktisch
zwingender erscheinen zu lassen, als sie
tatsächlich ist!
Eher
säkular-soziologisch gestimmte Kritiker haben
Boehm entsprechend vorgeworfen, mit der
Rechtfertigung eines Vorrangs der Wahrheit vor der
Demokratie dem Fanatismus das Wort zu reden.
Immerhin implizit in Kauf nimmt er ihn, kein
Zweifel. Im Auftrag der wahren Gerechtigkeit muss
in Boehms Logik alles erlaubt sein. Andererseits
ist philosophisches Denken nun einmal nicht so
intersubjektiv orientiert wie
soziologisches.
Vor
allem aber gerät aus dieser Perspektive ein
interessanter und zeitdiagnostisch relevanter
Impuls des Buchs völlig aus dem Blick: Boehm
will gegenüber dem Recht die Pflichten wieder
stärker machen, die Menschen haben. Dabei will
er allerdings weder - das ist ihm zu konservativ -
traditionalistisch argumentieren noch
liberal-demokratisch. Westliche liberale
Demokratien sind für ihn - hier ist er sich
mit identitären Linken einig - für
immer auf der gewaltsamen Unterdrückung
anderer gegründet.
Sein
radikaler Universalismus soll ein ganz anderer Weg
sein, ein neuer alter guter Grund für
Gerechtigkeit. Und die einzige nicht-nihilistische
Möglichkeit, die Gegensätze, die
entstehen, wenn alle auf ihre Identitäten
bestehen und die andere Seite dann nur noch
gecancelt sehen wollen,
aufzulösen. In seinem Kern ist das so
scharfsinnige und temperamentvolle Buch, mit dem
sich Boehm zwischen alle Stühle setzt, vor
allem der zutiefst humanistisch motivierte Versuch,
die Menschen ideell wieder auf die absolute
Liebe zur Menschheit zu verpflichten, indem
es daran erinnert, wie alt dieser Gedanke
ist.
Die
Würde des Menschen ist unantastbar. Dennoch
kann sie angetastet werden und wird sie angetastet,
weswegen dieser Satz aufgeschrieben werden musste.
Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht,
dass alle Menschen gleich erschaffen und von ihrem
Schöpfer mit gewissen
unveräußerlichen Rechten ausgestattet
wurden. Doch die Rechte kommen nicht mit der Geburt
und der Natur, sondern mit dem Rechtsstaat, in
dessen Gründungsurkunde sie festgehalten
werden. Deshalb können sie geändert und
verschieden interpretiert werden.
Das
Recht hat sich, mit anderen Worten, in der Neuzeit
allmählich von religiösen, moralischen
und wissenschaftlichen Begründungen
gelöst. Gälte es kraft einer Wahrheit,
müsste nicht über es entschieden werden.
Moderne Rechtsordnungen bedürfen darum auch
keiner spezifischen Glaubensüberzeugung, es
kann dem Bürger des Rechtsstaats, mit einem
Wort Thomas Jeffersons, gleichgültig sein, ob
sein Nachbar an zwanzig Götter glaubt oder an
keinen. Deswegen spielt es im Rechtsstaat auch
keine Rolle, ob jemand der Philosophie Immanuel
Kants anhängt oder lieber Thomas von Aquin
liest.
Mit
Radikaler Universalismus liefert Omri
Boehm mehr als eine Neuinterpretation, er
revolutioniert unser grundlegendes Verständnis
von dem, was Universalismus eigentlich
ist.
Ein
kühner Entwurf, der in seiner Furchtlosigkeit
einen Ausweg aus der festgefahrenen
Identitätsdebatte eröffnet.
Omri
Boehm, geboren 1979, ist Associate Professor
für Philosophie und Chair of the Philosophy
Department an der New School for Social Research in
New York. Er ist israelischer und deutscher
Staatsbürger, hat unter anderem in
München und Berlin geforscht. Sein Buch
Kants Critique of Spinoza erschien 2014 bei
Oxford University Press. Er schreibt unter anderem
über Israel, Politik und Philosophie in
Haaretz, Die Zeit und The New York Times. Bei
Propyläen erschien seine von der Kritik
hochgelobten Bücher Israel - eine
Utopie und Radikaler
Universalismus.
Michael
Adrian lebt als freier Übersetzer aus dem
Englischen und Französischen in
Frankfurt/Main. Neben Autor*innen wie Omri Boehm,
Eva Illouz und Tuvia Tenenbom hat er zusammen mit
Bettina Engels auch Klassiker wie Jeremy Bentham
und Edmund Burke übertragen. Er übersetzt
für das Feuilleton der Zeit und andere
führende deutsche Zeitungen und
Fachzeitschriften, ist Herausgeber von
Klassiker-Anthologien und hat zahlreiche Literatur-
und Sachbuchkritiken
veröffentlicht.
Radikaler
Universalismus von Omri Boehm ist am
01.09.2022 im Propyläen Verlag unter der ISBN
978-3-549-10041-7 erschienen, umfasst 176 Seiten
und ist um € 22,70 im Buchhandel
erhältlich.
|