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G E R D ' s

E L E V E N T Y

W I E S E N G R U N D

Eine Nährpflicht als Daseins-Vorsorge ?

In unserem Wiener Hauskreis haben wir uns mit Popper-Lynkeus' Modell einer „Nährpflicht“ befasst. Es folgt nun ein Artikel von Johannes, welcher uns das Modell vorstellt. Danach kommen weiterführende Überlegungen, welche uns das hundertjährige Modell etwas gegenwärtiger machen sollen.

Eine an Qualität erstaunlich reiche Zeitung, der , berichtete in zwei vergangenen Ausgaben von einem Herren mit Namen Josef Popper-Lynkeus, einem 1838 in Wien geborenen Gelehrten, dessen Wissensgebiete Technik, Mathematik, Nationalökonomie und Ästhetik umfassten und dem die Stadt Wien ein Denkmal gesetzt hat. Es befindet sich im Rathauspark und zeigt den Kopf des Philosophen, denn ja, Philosoph (Sozialethiker) war er nebenbei auch noch.

Seine bekannteste Erfindung - traurigerweise muss an dieser Stelle gesagt sein, dass auch sie weitgehend in Vergessenheit geraten ist - ist die allgemeine Nährpflicht.
Bevor alle „Oh weh, noch eine Pflicht !“ rufen und sich sofort anderen Dingen zuwenden, sei sie hier in An- bzw. Abrissen erläutert.

Die Grundidee besteht darin, dass alle Bewohner eines Staates ein paar Jahre „Nährpflicht“ abzuleisten hätten, eine Zeit, in der sie unentgeltlich Güter des täglichen Bedarfs herstellen oder aber notwendige Dienstleistungen erbringen. Ein verdächtig ähnliches System scheint auf den ersten Blick dem Zivildienst zu Grunde zu liegen, aber es gibt ganz erhebliche Unterschiede. Aus dem Zivildienst ergibt sich nämlich nur die Tatsache, dass eine Pflicht dem Staat gegenüber eben erbracht wurde und nunmehr nicht wieder eingefordert werden wird (obwohl es erlaubt ist, im Notfall auch ehemalige Zivildiener unterhalb eines bestimmten Alters erneut einzuberufen, vergleichbar mit dem Einberufen von Reservisten der Armee).
Außerdem ist der Zivildienst nur ein Ersatzdienst zur Wehrpflicht, die hochgelobte Neutraliät Österreichs mit der Waffe zu verteidigen. Dazu siehe den
entsprechenden Artikel in der Ausgabe „Leichtgrün“.

 

Die Nährpflicht berechtigt jedoch dazu, den Rest des Lebens eben jene Güter und Dienstleistungen kostenlos zu konsumieren. Interessanterweise wurde dieses Modell sogar durchgerechnet, wodurch der Beweis erbracht werden konnte, dass es - zumindest mathematisch gesehen - tatsächlich funktionieren könnte.

An dieser Stelle muss erneut darauf hingewiesen sein, dass Popper-Lynkeus dem vorvorigen Jahrhundert entstammt und seine Thesen auch schon einhundert Jahre alt sind. Der besagten Zeit waren Zustände vertraut, wie sie sich heute nur noch einige hundert Kilometer südlich oder östlich von uns in vergleichbarer Häufigkeit antreffen lassen. Kurz zusammengefasst: Wer keine Arbeit hatte, lief tatsächlich Gefahr, zu verhungern. Demgegenüber besagt Popper-Lynkeus’ Idee, dass eine einmal erbrachte Leistung (eben die Nährpflicht) den Rest des Lebens absichern kann, also niemand von Almosen oder Sozialeinrichtungen oder Spenden abhängig wäre, sondern lediglich die Früchte der selbst erbrachten Leistung genießt. Vor allem wären alle Menschen in ihren Grundbedürfnissen abgesichert.

Immer noch, nach 343 Wörtern, die Überschrift und die einleitenden Worte nicht mitgezählt, habe ich nichts von „Geld“ geschrieben. Dies ist nämlich die Grundbedingung für Popper-Lynkeus’ Idee: Die entsprechenden Dienstleistungen und Güter werden direkt, ohne Umweg über eine Geldwirtschaft, erbracht oder hergestellt und konsumiert. Jedwede Wechsel- oder sonstigen Kurse wären zumindest für die Grundsicherung vollkommen irrelevant.

Ich lasse es mir nun noch einmal auf der geistigen Zunge zergehen: Es ist keine Geldwirtschaft notwendig, um alle Bewohner und -innen (Frauen sind natürlich nicht ausgenommen, sonst könnte das System nicht funktionieren) zu versorgen. Für ihr ganzes Leben. Als Mensch, der - hoffentlich - am Ende des Studiums und am Beginn des Erwerbslebens steht, muss ich ehrlich zugeben, dass ein paar Jahre Arbeit, für die ich mir dann auch das Recht erwerbe, für den Rest meines Lebens versorgt zu werden, ausgesprochen erfreulich klingen.

Der Wahrheit zu Liebe sei vermerkt, dass dies die Vorderseite der Medaille ist. Große Probleme tun sich auf, sobald wir versuchen, uns die konkrete Umsetzung vorzustellen. Zunächst ist festzuhalten, dass wirklich nur die basalen Grundbedürfnisse gestillt werden - und allein der Pleonasmus deutet schon an, wie basal diese Bedürfnisse sind. In unserer Zeit, da wir Computer, zwei oder mehr Handys pro Person, Fernsehen, Internet, ein oder zwei Autos und mindestens eine Urlaubsreise im Jahr auch schon als Grundbedürfnisse betrachten, wären wir zutiefst erschüttert darüber, was wohl tatsächlich für uns übrig bleiben würde - denn wir bekämen Wohnung, Nahrung, Kleidung, Wärme sowie Unterricht. Und aus.

An dieser Stelle kommt die - im Idealfall erhalten gebliebene - Wirtschaft wieder ins Spiel: Wem all dies zu wenig ist, steht es selbstredend frei, am normalen Wirtschaftsleben nach Lust, Laune und Bedürfnis teil zu nehmen. Aber es ist nicht so notwendig und die Nichtteilnahme wäre keine Belastung für die Gesamtgesellschaft. Tatsächlich könnte jedeR arbeiten, was er/sie will - und zwar je nach den eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Damit wäre die Rolle der Arbeitnehmer gegenüber den -gebern deutlich gestärkt.

Tja, aber erklären Sie das den Leuten! Wer würde gerne, na, sagen wir, fünf bis zehn Jahre unbezahlte Arbeit leisten? Wer würde definieren, was Grundbedürfnis ist und was nicht? Denn je mehr zu den Grundbedürfnissen zählt, desto länger müsste dafür auch gearbeitet werden, notwendigerweise. Gerd sprach von dem vergleichbaren Bild eines „Lebens wie auf Cuba“, wo es ruhig zugeht- und die Leute oft sehr arm sind und in dieser Armut verbleibend „dahinplätschern“, um bei seiner Diktion zu bleiben, wenn sie nur die Grundbedürfnisse erfüllen können. Und alles andere müsste eben ziemlich lange warten.

Auch müsste es eine Einrichtung, Popper-Lynkeus spricht von einer nahezu allmächtigen Institution, geben, die für genau diese Einteilungen verantwortlich ist. Es stünden natürlich auch nicht allen alle Betätigungsfelder offen, und so würden wohl manche diese fünf bis zehn Jahre damit zubringen, unerfreuliche Arbeit zu leisten, um sich damit später mal das Recht zu erwerben, abgesichert zu sein - und das zu Arbeiten, was sie arbeiten wollen. (Klingt gar nicht so unähnlich der Situation von Studierenden, die nebenbei arbeiten müssen, oder?) Zur Verteidigung unseres Philosophen sei angeführt, dass er keinerlei moralische Verbesserung des Menschen selbst beobachtet oder erwartet und daher alle Hoffnung in die Institutionen setzt. Wie wir inzwischen wissen - aber ich brauche ja wohl nicht alle von Institutionen angerichteten Untaten anzuführen. An dieser Stelle seien auf die kürzesten tausend Jahre unserer Geschichte verwiesen, das reicht.

Auch haben wir ja gewisse Grundsicherungen; die tatsächliche Einführung und Organisation von Popper-Lynkeus’ Modell wäre mit sehr großem Widerstand von allen Seiten verbunden und würde wohl durchaus mit irgendeiner Art von Währung verbunden sein, sozusagen einer Parallelwirtschaft, die wohl recht bald mit der „richtigen“ Wirtschaft verflochten wäre. Denn, wenn wir einen Fernsehapparat als Grundbedürfnis sehen - wer kann schon selbst einen bauen? Vermutlich müssten verschiedene Dinge zugekauft werden, und da sind wir schon mittendrin im Problem.

Kurz zusammengefasst - wir sahen zahlreiche praktische Schwierigkeiten, wodurch sich das System bei uns wohl nicht so schnell, wenn überhaupt, durchsetzen ließe. Für ärmere Länder, in denen es kein so tragfähiges Sozialsystem gibt wie bei uns, erscheint eine Anwendung des Modells, wenn auch wohl in abgewandelter Form, durchaus sinnvoll.

Ehrlich gesagt - mir gefällt die Idee einer Welt, in der ich meine Existenzsicherung bereits erarbeitet habe und jetzt nur soviel arbeiten muss, wie ich Geld auszugeben gedenke. Aber ich gebe zu, dass auch ich das Vertrauen in die entsprechende Institution kaum hätte. Eine Antwort auf die vielen Fragen zur Durchführung kann auch ich nicht anbieten, obwohl ich sicher bin, dass sie sich regeln ließen; vermutlich würde sogar ein modus operandi für die Anpassung des Systems an verschiedene Veränderungen gefunden worden. Aber, wie gesagt - weder die Leute, noch die Politik, noch die Wirtschaft würden so ohne Weiteres mitmachen. Dennoch sei für die Grundidee, sich in wenigen Jahren eine Existenzsicherung und - berechtigung zu erarbeiten und damit zugleich eine Versorgung der Allgemeinheit durch die Allgemeinheit zu schaffen, ein großes Lob gesprochen. Wer weiß, vielleicht eines Tages...?

*

Eine meiner (Gerd's) ersten Bilder, welche mir dazu gekommen sind (als Erzähler von einer gefühlsdenkenden Kultur finde ich mich in Geschichten und Bilder besser zurecht, soferne sie aus den Tiefen des Sees im Wind- oder Lichtspiel hervor kommen), ist das Leben auf Cuba, von welchem ich durch ein paar Dokumentationen und von Franz' Erzählungen von seiner Radtour durch diese Insel in der Karibik erfahren habe. Leben in der Nährpflicht (und seinen Rechten) ist mir wie ein Leben auf Cuba - mit dem Unterschied, dass nicht Fidel Castro, sondern vielleicht jener Sozialethiker, von dem das Modell stammt, sowie diverse Autoritäten und Generäle, die dem zum Durchbruch verhalfen, verehren würden.

Also: Leben auf Cuba mit etwas türkischen-militärischem Einschlag, denn für den Fortschritt darf einem wohl kein Preis zu hoch sein … Vielleicht eine Überlegung für die Piraten ?

 

Dann, nachdem wir jene Bilder betrachtet haben, sind wir auf den der Bedarf nach Reformation und Transformation der Idee zu gewinnbringende Gedanken für heute gekommen:

Interessant klingt, dass die Tätigkeiten zur Grundsicherung selbst ausgeführt und nicht bloß erhandelt werden. Jene Produkte und Dienste der Grundsicherung nun selbst herstellen - unabhängig von der konventionellen Wirtschaft - zunächst für andere, dann später selbst bekommen, von anderen hergestellt.

Dies entspricht dem (trigrammischen) Charakter der Erde, den wir weiter zur Leibes-Mündigkeit denken können, wobei die Freiwilligkeit und das Bewusstsein im Tun als Voraussetzung zu nennen ist.
Es könnte auch von einer Parallel-„Wirtschaft der Erde“ gesprochen werden: U.a. Frucht hervorbringen, oder daran teilhaben und -nehmen. Integrieren in die Bildung (z.B. praktischer Gartenbau und weiterführende Tätigkeiten bei Interesse / Mitarbeit in Landwirtschaft), bzw. auch als nebenbei Arbeiten während der Ausbildung.

 

Da zeigt sich erneut, dass viele moderne Gedanken, welche bislang in der Dominanz von Traditionsträgern und Autoritäten unter uns gebracht wurden, neu entdeckt und von jeder Einzelnen neu aufgegriffen werden müssen. Der Wandel der Zugänglichkeit zum Ideellen von der alten Herrschaftlichkeit (aus den Monarchien) zu eigenen Erfahrungen und zum eigenen Denken der Individuen ist wohl ein Kapitel für sich.

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