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G E R D ' s

E L E V E N T Y

B O D E N . S C H A T Z

Buchtipp

von Thomas

 

Sie heißen HCB, Fipronil, Glyphosat, Neonicotinoide oder noch komplizierter und sie sind mittlerweile überall: auf den Polkappen, in den Tiefen der Weltmeere, in verlassenen Bergseen, Flüssen, Gletschern, Pflanzen, Tieren, Menschen. Man fand Schadstoffe, die seit mehr als drei Jahrzehnten verboten sind, in Flohkrebsen, die 10.000 Meter unter dem Meeresspiegel leben. Man fand das Insektizid DDT im Fettgewebe von Pinguinen in der Antarktis.

Man fand 56 Pestizide in handelsüblichen Rosensträußen. Jedes dritte davon gilt als besonders bedenklich, da es Krebs erregen könnte. In der Nabelschnur von Neugeborenen entdeckten US-Forscher mehr als 230 Chemikalien, darunter viele Pestizide. Es sei so gut wie sicher, schreibt Johann Zaller, „dass wir alle, ob in der Landwirtschaft tätig oder nicht, Pestizidrückstände in unserem Körper haben“. Wir haben das Gift gegessen, eingeatmet, es uns als Kosmetika auf die Haut geschmiert oder über unser Gewand aufgenommen. Wind und Wasser trugen es von den Feldern und Gärten über den ganzen Erdball.

Die Folgen sind verheerend.
Fast ein Viertel der in der EU gefährdeten Arten sind durch Schadstoffe bedroht, die aus der Land- und Forstwirtschaft stammen. In den vergangenen 35 Jahren schrumpfte die heimische Artenvielfalt an Insekten und Spinnen nahezu um die Hälfte. Vögel sterben am Gift, Fledermäuse verhungern, Nagetiere verenden, Hummeln verlieren die Orientierung, und Bienen werden chemisch kastriert. Das weltweit eingesetzte Atrazin führt nicht nur zur Unfruchtbarkeit von Fröschen, sondern manchmal sogar zu deren Geschlechtsumwandlung.

Auch die Verursacherspezies Mensch bekommt die Folgen am eigenen Leib zu spüren. Allein in den USA sind jährlich mehr als 10.000 Krebsfälle auf Pestizide zurückzuführen. Für Weinbauern in Frankreich gilt Parkinson durch Spritzmittel offiziell als Berufskrankheit. In Mexiko sind die Hirne von Kindern, die in einer pestizidbelasteten Region leben, merkbar schlechter entwickelt. Neuere Studien weisen darauf hin, dass das umstrittene Pflanzengift Glyphosat zu Krankheiten wie Alzheimer, Diabetes, Depressionen, Herzinfarkten und Unfruchtbarkeit führen könnten.

 

Johann Zaller lehrt am Institut für Zoologie der Universität für Bodenkultur in Wien mit den Schwerpunkten Ökologie der Pflanzen, Ökologie der Tiere, Ökosystemforschung, Biologischer Landbau, Agrarökologie, Umweltschutz. Er erforschte selbst, wie sich Mittel auf die Natur auswirken: Er besprühte Pflanzen mit Glyphosat und analysierte daraufhin den Bodenorganismus. Ergebnis: Die Mykorrhiza-Pilze, die die Pflanzen mit Nährstoffen versorgen, nahmen um die Hälfte ab. Regenwürmer wurden dicker, inaktiver und bekamen nur noch halb so viele Nachkommen. In weiteren Experimenten untersuchte er die Auswirkung eines Herbizids in Laichgewässern von Erdkröten und wies in Folge Schwanzfehlbildungen bei Kaulquappen nach.

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„Erstmals in der Weltgeschichte hat eine einzige Spezies, nämlich wir Menschen, es geschafft, den gesamten Planeten zu vergiften“, schreibt Zaller und erklärt, woran das System krankt. Etwa an den Zulassungen von gefährlichen Pestiziden, die kaum unter realen Bedingungen und nur sehr eingeschränkt getestet wurden, und an Verbandelungen zwischen der Industrie und den Behörden, die die Pestizide zulassen und kaum kontrollieren.

Aufgrund falscher Beratung bringen Landwirte zu viele Pestizide aus, und den Umgang von Hobbygärtnern mit Spritzmitteln kann man nur allzuoft dilettantisch nennen. Dazu kommt, dass Lobbygruppen der Hersteller kritische Wissenschaftler öffentlich diskreditieren - Zaller spricht dabei aus eigener Erfahrung. Deren Argument, dass Pestizide nötig seien, um die Weltbevölkerung ernähren zu können, widerlegt der Ökologe und stellt sogar die Sinnhaftigkeit der Pestizide insgesamt infrage. Er beruft sich dabei auf Studien, die zeigen, dass Pestizide nicht zur Ertragssteigerung beigetragen haben.

Zaller driftet manchmal ins Polemische ab und wiederholt sich mehrmals, aber er argumentiert ebenso fakten- wie meinungsstark. In seiner 240-seitigen dichten Anklageschrift zeigt er, was schiefgegangen ist, als der Mensch versuchte, sich die Erde untertan zu machen. Heraus kommt ein Buch, das wütend macht und das Zeug dazu hat, eine längst notwendige gesellschaftliche Debatte über die Landwirtschaft auszulösen. Und nein, wenn Sie den Apfel vor dem Verzehr abwaschen, verschwinden die Pestizide nicht aus ihm.

 

Wer also weiter beschwingt gustierend durch die Gemüse-und Obstregale schlendern möchte, sollte von der Lektüre dieses Buches eher absehen.
Bereits nach wenigen Seiten schafft es Zaller, nachhaltig Gedanken daran zu platzieren, wie oft diese oder jene Frucht mit diversen Mitteln zur Schädlingsbekämpfung in Berührung kam.
Bei Äpfeln kann das immerhin mehr als 20 Mal der Fall sein, berichtet Zaller, und beginnt damit seinen unverblümten, stellenweise bitter bis wütenden Exkurs.

Der Leser erhält Einblicke in die Praxis der Zulassung der Mittel, wo es im Prinzip in der Verantwortung der Unternehmen selbst liegt, jene Daten beizubringen, auf deren Basis über die Zulassung entschieden wird. Einmal am Markt weist Zaller auf die unglaubliche Flexibilität von erlaubten Rückstandswerten in der Nahrung hin. So erfuhr dieser Wert für Glyphosat in Sojabohnen in Europa seit 1999 eine 200-fache Erhöhung. Das liege allerdings nicht daran, dass etwa neue wissenschaftliche Daten zur Unbedenklichkeit vorlägen. Es habe schlichtweg damit zu tun, dass die alten Grenzwerte nicht mehr erreicht wurden und Produkte nicht mehr zum Verkauf zugelassen worden wären.

 

Besonders interessant sind Zallers Schilderungen der Reaktionen von Medien, Lobbyverbänden, Bloggern, Vertretern der Behörden und der Politik nach der Veröffentlichung brisanter Ergebnisse.

Während Zaller manche Kapitel noch in relativ wissenschaftlich-distanziertem Ton beginnt, kann der Leser dem Forscher quasi dabei zuhören, wie er sich in der Aufzählung diverser unglaublicher Begebenheiten zusehends schwerer tut, die emotionale Distanz zu wahren. Das wirkt zwar erfrischend authentisch, öffnet womöglich aber Einfallstore für Kritik von Branchenvertretern.

Nachdem der Wissenschaftler der Beschreibung des Status quo viel Raum gegeben hat, skizziert er durchaus ermutigend Auswege aus der Misere.
Insgesamt braut Zaller jedoch einen herben Cocktail aus unangenehmen Daten, Fakten und Einschätzungen. Bleibt zu hoffen, dass sich in einer etwaigen Diskussion rund um das Buch der eine oder andere Schleier um das Wissen und vor allem das umfassende Nicht-Wissen zu den Auswirkungen des unbestritten großflächigen Einsatzes in der Landwirtschaft hebt.

 

Johann Zallers „Unser täglich Gift“ ist am 12.03.2018 im Zsolnay Verlag erschienen, umfasst 240 Seiten und ist unter der ISBN 978-3-552-06367-9 um EUR 20,60 im Buchhandel erhältlich.

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