(Text
von Johannes Klietmann)
Auch
wenn Universum sehr selten diesen
Eindruck vermittelt, ist Afrika durchaus kein
wasserleerer Kontinent. Es gibt Gebiete in Afrika,
in denen Regenwälder gedeihen und es
massenhaft Wasser gibt, in Regenzeiten beinahe
schon zuviel. Dementsprechend gibt es auch eine
ganze Menge großer Ströme in
Afrika.
Einer
davon ist der Kongo Fluss und hat für ein
erstaunliches Phänomen gesorgt.
An den Ufern des Kongo leben nämlich unsere
nächsten Verwandten, die Schimpansen, und zwar
schon ziemlich lange. Auch der Kongo ist schon
lange da, wo er heute ist. Er ist ein gewaltiger
Strom, der eine Unmenge Tonnen Wasser pro Sekunde
befördert. Es ist praktisch unmöglich,
selbst für ein Tier, das wirklich gut
schwimmen kann, einfach mal eben über den
Kongo zu schwimmen. Schimpansen können, wie
alle Menschenaffen, den Menschen selbst
ausgenommen, nicht schwimmen. Sie hüten sich
daher wohlweislich, dem Wasser auch nur zu nahe zu
kommen.
Wie
gesagt, der Kongo ist schon ziemlich lange dort, wo
er ist. So lange, dass sich die Schimpansen
mittlerweile in zwei Arten getrennt haben. Beide
sind unsere nächsten Verwandten, wir sind
nicht mit einer Gruppe näher verwandt als mit
der anderen, denn als sich unsere eigene
Entwicklungslinie abspaltete, waren sie - bzw. ihre
Vorfahren - noch eine einzige, gemeinsame
Art.
Die
eine, bekanntere, Gruppe sind die eigentlichen
Schimpansen.
Sie sind kräftig gebaute Menschenaffen mit
einem interessanten Sozialsystem. Die Position in
der Gruppe hängt davon ab, wer die Eltern
sind, wen man durch Lärm beeindrucken kann und
wem man den Rücken krault. Im Falle der
Schimpansen ist das noch wörtlich zu
verstehen. Üblicherweise gibt es ein
dominantes Männchen mit mehreren
Verbündeten, das die anderen Männchen
stets unter seiner Kontrolle hält, sich aber
auch Verbündete suchen muss und sich mit den
Weibchen gut stellen muss, denn gegen die gesamte
Gruppe kann es wenig ausrichten.
Schimpansen
sind nicht nur friedlich, und sie sind auch keine
reinen Pflanzenfresser. Als einzige
Menschenaffenart - uns selbst ausgenommen - gehen
sie gezielt auf die Jagd, oft auf kleinere
Affen.
Untereinander können sie ziemlich
gewalttätig werden, wenn es darauf ankommt,
obgleich sie natürlich normalerweise friedlich
zusammenleben und großartige Formen der
Zusammenarbeit kennen.
Die
weniger bekannte Gruppe sind die so genannten
Bonobos.
Sie sind kleiner und zarter als die Schimpansen,
haben längere Gliedmaßen und können
besser auf zwei Beinen gehen. Soweit ich
weiß, jagen sie nicht oder nur sehr selten.
Zumindest habe ich es von ihnen noch nicht
gehört. Auch sonst ist ihre Gesellschaft ein
wenig anders gestaltet, denn sie haben einen -
meines Wissens nach - im Tierreich einzigartigen
Weg gefunden, soziale Spannungen zu
entschärfen. Sie haben nämlich Sex
miteinander.
*
Während
bei Schimpansen ganz klar geregelt ist, wer darf
und wer nicht, herrscht bei den Bonobos der Traum
aller Hippies:
Es darf nämlich jeder mit jedem. Oder jeder.
Oder wie auch immer. Es herrschen keine Tabus, was
Sex betrifft, es darf jedes Männchen mit jedem
Weibchen - Verwandtschaftsverhältnisse sind
egal - oder auch mit jedem Männchen oder zwei
Weibchen oder was den Tieren halt gerade
einfällt. Die
sexuellen Kontakte
übernehmen dabei die Funktion des
Rückenkraulens, sie dienen
der Beseitigung sozialer Spannungen und
Konflikte
und sind Teil der alltäglichen sozialen
Kontakte - und ich meine wirklich alltäglich.
Kein Bonobo zieht sich für so etwas vor der
Gruppe zurück. Im Gegensatz zu praktisch allen
anderen Tieren, die in Gruppen leben, stört
sich das dominante Männchen - oder sonst
jemand - nicht an dem Treiben. Interessanterweise
können die Weibchen irgendwie verhindern, dass
sie trächtig werden, wenn sie gerade nicht
dazu bereit sind. Wie, ist nicht
bekannt.
Aber
das wirklich Verblüffende ist, dass sich die
Menschheit ähnlich verhält wie beide
Schimpansenarten, zumindest, wenn man die
Gesellschaft betrachtet.
Die individuellen Moral- und sonstigen Ansichten
sind sehr viel komplizierter, aber bei ganzen
Gesellschaften zeichnet sich ein interessantes
Muster ab.
*
Die
eine - größere - Gruppe hat eigentlich
kein Problem damit, zu töten, aber Sex wird in
(fast) jeder Form als größte denkbare
Sünde betrachtet.
Ich möchte hier die USA erwähnen,
in denen - außer in Hollywoodfilmen - alles,
was an Sexualität erinnert oder erinnern
könnte, verurteilt wird, besonders in den
Südstaaten. Oft wird Verhütung als etwas
ganz Schreckliches betrachtet und Verzicht
gefordert, ja, sogar Aufklärungsunterricht in
den Schulen wird oft bekämpft.
Leute
zu töten wird hingegen als normal betrachtet.
Viele Staaten haben die Todesstrafe und nur die
übliche kleine Minderheit stößt
sich wirklich daran. In den Krieg zu ziehen,
Verbrecher hinzurichten oder dergleichen mehr
werden als reinigende Akte beziehungsweise
notwendige Kämpfe für eine gute, richtige
Sache empfunden und daher akzeptiert.
Interessanterweise
findet sich dieses Muster durchaus auch bei Leuten,
die den USA ganz weit ferne stehen - es gibt viele
Gruppen, für die es kein großes Problem
darstellt, Leute zu verurteilen oder
auszuschließen und somit zumindest seelisch
zu verletzen oder gar tatsächlich physisch
anzugreifen, aber die Sexualität am liebsten
ganz abschaffen würden. Da dies nicht geht,
muss so etwas zumindest strengstens reglementiert
sein.
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Das
Gegenkonzept ist eine genaue Spiegelung
des ersten.
Bei
diesen Gesellschaften, ich zähle
Europa oder zumindest West- und
Mitteleuropa dazu, wird Sex als etwas
betrachtet, dass die Einzelnen für
sich bzw. gerade noch mit den jeweiligen
Partnern ausmachen müssen. Generell
wird es als normal angesehen, sexuelle
Kontakte in welcher Art auch immer zu
haben, ohne dass besondere Vorschriften
gemacht würden.
Außer
natürlich, es würde jemand
verletzt, denn das ist der Punkt, den
diese Art Gesellschaft überhaupt
nicht aushalten kann. Das Töten,
physische Verletzen oder auch nur
psychische Verletzen von Menschen wird als
unverständlich und entsetzlich
betrachtet und soll daher nach
Möglichkeit vermieden werden. Diese
Gesellschaften betrachten Krieg eher als
das eigentliche Problem und nicht als
notwendiges Übel zur Lösung
eines Problems. Sie lehnen die Todesstrafe
ab und sind für Resozialisierungs-
und Therapiemaßnahmen. Das Verletzen
oder gar Töten von Leuten wird als
das eigentlich Böse gesehen und
strengstens reglementiert, während
Sexualität mehr oder weniger nur
dadurch geregelt wird, dass es eben nicht
Recht ist, andere damit zu
verletzen.
Aus
irgendeinem Grund scheint tatsächlich
eine gewisse Korrelation zu bestehen. Man
sollte das tatsächlich mal
psychologisch untersuchen: Gesellschaften
oder Gruppierungen neigen dazu, entweder
Sex zu verdammen und Gewalt mehr oder
weniger hinzunehmen oder umgekehrt. Es
gibt natürlich viele
Übergangsstadien, aber je mehr das
Eine abgelehnt wird, desto eher wird das
Andere akzeptiert.
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Ich weiß nicht, warum das so ist, aber meiner
Beobachtung nach ist es so. Praktisch alle
Gruppierungen, für die Sexualität
sozusagen die Ursünde darstellt, haben wenig
Probleme mit verschiedenen Formen - sanktionierter,
also erlaubter - Gewalt, während Gruppen,
für die Gewalt die Ursünde darstellt,
kaum Probleme mit Sexualität jeglicher Form
und Variante haben.
Für
Einzelpersonen gilt das natürlich nicht, denn
hier fehlen noch zwei Kategorien: Leute, die
konsequent beides nicht mögen und
natürlich die Gegenkategorie, für die
sowohl Gewalt als auch Sex akzeptabel sind. Diese
Gegenkategorie heißt James Bond, sonst habe
ich noch niemanden dieser Art getroffen. (Okay,
James Bond habe ich auch nie getroffen.)
Wohlgemerkt:
Ich habe bewusst geschrieben, dass es
Gesellschaften
sind, um die es hier geht, und um ihre moralischen
Ansprüche. Diese Ansprüche haben
bekanntermaßen wenig mit dem zu tun, was dann
tatsächlich getan wird. Worum es hier geht,
ist, welches Verhalten als gut betrachtet wird und
wofür man sich eher schämen sollte, wenn
man es tut. Ich sage nicht, dass das, was nicht als
richtig betrachtet wird, nicht getan wird. Ich sage
nur, dass es eben als eigentlich, wenn mans
genau nimmt, im Prinzip nicht richtig betrachtet
wird, unabhängig davon, ob es tatsächlich
getan wird oder nicht.
*
Abschließend
könnte noch die Frage auftauchen, welche
Verhaltensweise denn die eigentlich natürliche
ist.
Tja,
traurigerweise muss ich zugeben, dass meines
Wissens nach die natürlichste Verhaltensweise
die von James Bond ist. Der Mensch als Wesen an
sich trägt stets sowohl den Trieb, seine
Gegner zu vernichten, als auch den Sexualtrieb in
sich. Interessanterweise lässt sich das
Nicht-Ausleben des einen scheinbar mit Ausleben des
anderen Triebes kompensieren oder zumindest
scheinen die Gesellschaften das unbewusst zu
glauben. Beide Seiten haben Recht, denn einerseits
ist Töten und Verletzen tatsächlich etwas
sehr Schlimmes, das Schlimmste, was Menschen
einander anzutun pflegen, andererseits würde
vollkommen ungeregelte Sexualität nur für
Chaos und Streit sorgen.
Interessanterweise
geht genau Letzteres mit der Zweiteilung einher:
Üblicherweise sieht die Seite, die eher Gewalt
als Sex akzeptiert, Ordnung als etwas Gutes und
unbedingt zu Erhaltendes an, während die
andere Seite Ordnung zwar als prinzipiell gut, aber
nicht allzu wichtig ansieht. Umgekehrt betrachtet
die Seite, die eher Sex als Gewalt akzeptiert,
Rücksicht auf andere als etwas ungemein
Wichtiges, während die andere Seite
Rücksicht als prinzipiell gut, aber im Notfall
höheren Werten unterzuordnend
betrachtet.
Das
klingt bisher nicht sehr optimistisch, nicht wahr
?
Es ist aber auch nur eine Beobachtung, vielleicht
stimmt sie gar nicht, aber manchmal habe ich den
Eindruck, man könnte die Gesellschaften dieser
Welt - stark überspitzt gesagt - in prüde
Killer und wehleidige Sexuelle
unterteilen.
Zum
Abschluss aber noch eine positive, optimistische
Aussage, dass alles gut wird:
...
Sorry,
mir fiel nix ein. Aber zur allgemeinen Beruhigung:
Ich bin auch
verrückt.
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