Ich (Gerd)
behaupte, ein soziales Denken und Handeln
aus freier
Überzeugung
hat es kaum gegeben, obwohl für mich
dafür wesentliche Impulse aus dem Christentum
kommen.
Jede Religion stiftet Beziehung, und die Erfahrung
zeigt, dass hier die Beziehung zum Mitmenschen
durch die Beziehung zur Gottheit gefärbt
wird.
Als Grund für
diese Behauptung möchte ich die
verklärten Bilder von Beziehungen
aus der Vergangenheit hinterfragen:
In der Zeit vor dem
Fernsehen - und natürlich vor dem PC und dem
Handy - sollen die Leute sich einfach zum Nachbarn
auf seine Bank gesetzt haben und sich viel zu sagen
gehabt haben. Früher sollen die Menschen mehr
untereinander gesprochen haben. Sie haben sich am
Markt, am Brunnen oder im Gasthaus getroffen und
sich mehr einander ausgetauscht, als das heute der
Fall sei.
Wenn diese Zeit und
diese Begegnungen so schön
waren, warum hat man das nicht als zu erhaltenden
Wert verstanden ?
Anstatt sich zum Fernseher oder zum PC zu setzen,
hätte man sich doch einfach wie früher
treffen können und weiterplaudern können.
Warum haben die Leute das nicht getan ?
Auch in meiner
eigenen Nachbarschaft ist im vorigen Jahrhundert
(zumindest in jener Zeit, seit dem ich im Haus
wohne) die Kommunikation viel besser gewesen.
Wir spielten im Hof, zeigten uns Dias, feierten
gemeinsam und schliefen sogar gemeinsam mit
Schlafsäcken im Hof. Aber ich weiß
genau, warum das heute nicht mehr so
ist.
Zum einen die
Lässigkeit und der Glaube, bei einem
herzlichen Verhältnis stehe einem alles zu.
Die Kinderchen (sprich Jugendliche) gingen in
meinen frisch ausgebauten Keller, rauchten dort und
hinterliesen ihre Zigarettenstummel, ohne dass ich
davon wusste. Machte Margit oder ich die Nachbarn
darauf aufmerksam, wird das als Böswilligkeit
missverstanden. Wir hatten auch eingeschlagene
Fensterscheiben.
Zum anderen die
menschelnde Missachtung von Individualität.
Mit der Zeit fehlte der höfliche Respekt.
Unsere Familie hatte zum Diaabend eingeladen, und
mit einem Male tauchten Freunde von Nachbarn auf,
drängten sich vor, sodass wir erst nach zwei,
drei Stunden dran kamen, wo sich alle schon satt
gesehen haben und niemanden mehr etwas interessiert
hat.
Weiters die
feucht-fröhliche Atmosphäre, die zwar die
Stimmung lockert, aber die Distanzen
verwässert, statt überbrückt. Mochte
Margit oder ich schlafen gehen, wurde das kaum
akzeptiert. Bei einer Silvesterfeier wurde ich
schief angesehen, als ich, weil ich auf Grund einer
Beinahe-Lungenentzündung, Antibiotika nehmen
musste, Wein und Sekt ablehnte.
Freilich spielten
auch altkluge Kleinbürgerlichkeiten oder
Bekundungen von Desinteresse an Belanglosigkeiten
eine Rolle. Die interessanteren Gespräche
führte ich lieber mit Norbert und Jochi, sowie
in dessen freundschaftlichem Umfeld - inzwischen im
Umfeld der Eurythmie - als mit meinen Nachbarn, die
darüber hinaus gerne über Beamte
schmähen.
.
Eine so schöne und erhaltenswerte
Nachbarschaft ?
.
Manchmal liegt es
einfach auch nur an der Unterschiedlichkeit von
Traditionen. Wenn Vergangenes so verklärt
schön und das Leben einfach war, dann deshalb,
weil das Leben einfach gemacht wurde und meist
fremdbestimmt war. Früher konnte man
außerhalb seines Standes, oder der Sippe
nicht heiraten.
Romeo und Julia.
Dieses Drama gibt einen realistischeren Blick auf
die idyllische Ländlichkeit und Familie. Zu
einer Zeit geringerer Lebenserwartung,
Bevölkerungsdichte und Anzahl von Berufen war
auch das Leben selbst eintöniger. Noch vor
hundert Jahren waren die meisten Leute Bauern, in
dessen Arbeit - wie etwa auch bei den Zünften
- die Kinder in jene der Eltern hinein wuchsen.
Noch früher gab der Familienname sogar die
Berufsbezeichnung wieder. War der Vater ein
Schuster, wurde es der Sohn auch - und die
Töchter wurden fremdbestimmt verheiratet oder
als Zehntel ins Kloster gegeben.
Bei dieser
Einförmigkeit, wo die Leute nur unter
ihresgleichen waren, glaube ich gerne, dass es
früher einmal viel unkomplizierter war.
Selbstgespräche gehen immer leichter von der
Hand und haben weniger Konfliktpotential als
Gespräche mit Leuten unterschiedlicher
Herkunft.
Natürlich war
und ist es schön, wenn man sich gut verstanden
hat und mitunter weniger Widersprüche
aushalten muss. Aber unsere kulturelle Entwicklung,
darunter auch der Wunsch nach Selbstbestimmung,
bewirkten eine unglaubliche Fragmentisierung , wie
auch eine Vielfalt der Lebensmöglichkeiten.
Eigentlich sollten wir über die
Komplexität dankbar sein, denn das Fallen
eindeutiger Wahrheiten im Formhaften,
erlaubt uns Freiheiten. Ich glaube, die soziale
Entwicklung hat mit jener seit der industriellen
Revolution nicht Schritt gehalten.
Ein jeder will
seinen Weg gehen, und soziale Beziehungen haben
immer auch einen Notwendigkeits-Charakter gehabt.
Ich muss mich mit dem oder der gut stellen, denn
ich könnte ihn ja einmal brauchen. Hier
sprechen Erfahrungen von Jahrhunderten -
vergangenen Jahrhunderten, wo auch die Not viel
größer war.
Margit hinterfragt
idyllische Bilder insofern, dass sie meint, dass
die Leute früher viel mehr selbst gemacht und
gearbeitet haben, wie etwa die Bergbauern, die auch
heute noch viel weniger Komfort, wie die meisten
Leute, geniesen.
Dieser
Notwendigkeits-Charakter von Beziehungen, Nachbar-
und Freundschaften wirkt bis heute herein. Zum
Beispiel beim Hausbau oder anderen
Tätigkeiten, wo man sich die Handwerker
einfach nicht leisten kann. Diesen Umstand gilt es
bei idyllischen Bildern von Familie und
Ländlichkeit immer im Hinterkopf zu behalten,
wenn man junge Menschen heute verstehen will und
fassungslos dem Web, PC, den SMSen, ICQs, Handys
und anderen spanischen Dörfern
gegenüber steht.
Es war einfach
nicht so schön, als dass man heute
überrascht, frustriert und mit
Unverständnis einer einfacheren Zeit
nachtrauert, schon der Not wegen. Warum wurde der
steigende Wohlstand aus sozialen Errungenschaften
materieller Natur und die
Arbeitszeitverkürzung nicht als Grundlage
für Investitionen in zwischenmenschliche, bzw.
nachbarschaftliche oder freundschaftliche
Verhältnisse genutzt ? Die Sozialdemokatie
scheint nie soziologisch orientiert gewesen zu
sein. Das wäre nun nachzuholen, um wenigstens
im 21. Jahrhundert politische Ambitionen durch den
Willen der eigenen Mitglieder zu decken.
Die
Mitmenschlichkeit bedarf einer Wieder-Entdeckung
als Lebenswert und muss später sogar Teil
eines Lebensstandards werden. Sie ist nicht
selbstverständlich, denn das
kleinbürgerliche Verständnis des Socius
ist nur ein Regelwerk und kaum durchdacht. Davon
ist das Christlich-Soziale in seiner Praxis
betroffen, was man besonders in überzogenen
Forderungen nach Anständigkeit bemerken
kann.
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