Sehr geehrte Damen
und Herren!
Worüber ich
sprechen möchte, ist die Wahrhabung von
Weltverantwortung, welche die islamische Mystik -
und nicht nur diese - in der heutigen Zeit
einfordert.
Ich möchte
meine Gedanke in Form von 4 Thesen
zusammenfassen.
These 1: Wir
benötigen eine interkonfessionelle
Spiritualität
Die Menschen suchen
seit allen Zeiten den Weg in die diesseitige
Erfahrung des Heiligen. In den religiösen
Konfessionen herrscht die Idee einer besseren Welt
im Jenseits vor - einer Welt ohne Leid und Tod. Bei
genauerer Betrachtung steht hinter diese Anschauung
eine Kritik am Schöpfer, der offenbar nicht in
der Lage ist, eine vollkommene Welt zu erschaffen.
Bei all dem vorherrschenden Unrecht und Grauen in
der Welt stellt sich die Frage, ob Gott etwas
falsch gemacht hat.
Worin liegt der
Sinn des Lebens, des Leidens, des Bösen, des
Todes?
Der konfessionelle
Islam verkündet die wahre Welt im Jenseits.
Dies erscheint dem Mystiker als nicht
erstrebenswert. Er sucht die Vereinigung mit Gott
bereits im Diesseits. Daher haben für ihn auch
Paradiesversprechungen im Jenseits keine Relevanz,
da er ja auch dort von Gott getrennt ist. So ist
aus sufischer Sicht demnach der Weg in das Hier und
Jetzt das Ziel.
Alle Religionen
haben Wege gesucht, aus dieser Enge konfessioneller
Sichtweisen herauszufinden. Darin liegt auch heute
Wesen und Zukunft der Religionen. Denken wir z. B.
an Halladsch, der in Verzückung mystischer
Ich-Entgrenzung rief "ich bin die göttliche
Wahrheit". Die konfessionellen moralisierenden
Gralshüter religiöser Wahrheit haben ihn
dafür getötet .
Eine derartige enge
Sicht von Religion gleicht einem Mausoleum.
Wesentliches Ziel muss es aber sein, in die
Erfahrung dessen zu gelangen, was die
Religionsstifter vermitteln wollten, nämlich
einen neuen Bewusstseinsraum. Aus diesem Grund
haben auch die islamischen Mystiker immer betont,
dass man mit dem rastionalen Bewusstsein diese
Liebe nicht verstehen kann (Yunus Emre: Bu aklu
fikrile ... oder Rumi, "Der Verstand setzte sich
den Liebenden in den Weg" ...) Modern gesprochen
geht es darum, in einen transrationalen
Bewusstseinsraum vorzudringen - oder wie die Sufis
sagen ". . . einzuziehen in sein Herz".
In diesem
Bewusstseinsraum besteht Einheit (vahted) in der
Vielheit. Denn die Wahrheit kann nur eine
sein.
Daher muss auch
heute wieder Religion den Gottessucher durch die
jeweilige Konfessionen hindurch in diesen
gemeinsamen Wahrheitsraum führen.
Es gibt nämlich keine konfessionsgebundene
Gotteserfahrung sondern vielmehr wird die jeweilige
Erfahrung vor dem Hintergrund konfessioneller
Strukturen gedeutet.
Der Streit zwischen
Christen, Muslimen und Juden zeigt, dass die
exoterischen Vertreter dieser Religionen immer noch
nicht in der Lage sind, ihre religiösen Ideen
auf das Leben als solches anzuwenden und nicht nur
auf die eigene Gesellschaft. Eigentlich müssen
wir uns eingestehen, dass sie sich in Bezug auf die
Anforderungen einer modernen Welt ohne
geographische Horizonte disqualifiziert haben. Was
wir benötigen, ist ein Mythos, der den
Einzelnen sich nicht mehr nur mit seiner
beschränkten Gemeinschaft identifizieren
lässt, sondern mit dem gesamten Planeten. Doch
wie kann das gehen? Dies führt mich zu
meiner
These 2: Es ist
Aufgabe der Religionen, in die Erfahrung dessen zu
führen, was sie in ihren Schriften
verheißen
Es besteht offenbar
ein natürliches Spannungsfeld zwischen
konfessioneller Religionsauslegung und mystischer
Welterfahrung. Der berühmte Ausruf Halladschs
"en el hak - ich bin die absolute Wahrheit" kann
als Offenbarung Gottes in diesem Menschen
verstanden werden. Das Hadith kudsi
(außerkoranisches Gotteswort) ". . . Ich war
ein verborgener Schatz und sehnte mich danach
erkannt zu werden, deshalb schuf ich die Welt"
verweist aus sufischer Sicht darauf, dass Gott sich
ganz und gar in uns als Mensch offenbaren
möchte, so wie er sich im Baum als Baum
offenbaren, im Tier als Tier und im Stein als Stein
offenbaren möchte.
Wir sehen hieran,
dass der Begriff "Offenbarung" aus konfessioneller
und mystischer Sicht unterschiedlich verstanden und
gedeutet wird. Aus sufischer Sicht bedeutet aber
der Begriff "Offenbarung" lebendiges,
ganzheitliches Erfahren des Göttlichen. In
einem religiös-konfessionellen Sinn wird
hingegen das Nacherzählen einer
überlieferten Heilserfahrung und -geschichte
verstanden.
Somit ist es aus
der Sicht des Mystikers die wichtigste Aufgabe des
Menschen, ganz Mensch zu sein, mit allen
Möglichkeiten und Potenzen.
Ich habe bei einem Freund eine Karikatur gesehen,
wo Gott an einem Computerbildschirm sitzend
dargestellt wird, der mit den Menschen "Schicksal
spielt".
Vor kurzem habe ich
den bildhaften Vergleich des Zenmeisters und
christlichen Mönches Pater Willigis Jäger
gehört, der Gott als klingende Symphonie
beschreibt. Die Geschöpfe sind eine je
individuelle unverkennbare und einmalige Note,
deren einzige Aufgabe es ist zu klingen.
Entscheidend ist die Musik, nicht die einzelne
Note. So ist es meine Aufgabe, als Mensch als diese
eine individuelle Note zu erklingen, die "Kadir"
heißt. Rumi hierzu: "Alles wurde ER, was mir
blieb, ist nicht einmal mein Name."
Es geht also um die
Erfahrung des Lebenssinns im "Jetzt und Hier" und
nicht erst im Jenseits.
These 3: Der
Mensch der Zukunft muss ein Mystiker sein und
konfessionelle Grenzen
überwinden
Die Vielzahl
kriegerischer Auseinandersetzungen weltweit zeigt,
dass eine verbindliche Werteordnung für ein
menschliches Zusammenleben - die keine Horizonte
mehr kennt - nicht aus einem "du sollst" und "du
musst", "du darfst" und "du darfst nicht" entstehen
kann.
Diese Ge- und
Verbote haben uns als spirituelle Wesen nicht
weitergebracht. Um konfessionelle Ge- und Verbote
hinter uns zu lassen bedarf es der direkten,
authentischen mystischen Erfahrung. Der "Nu" - der
gegenwärtige Augenblick ist die direkte
Kontaktstelle zum Göttlichen. Hier und Jetzt
ist Erfahrung möglich. Wenn wir diese
Erfahrung denken, sind wir bereits
getrennt.
Dies öffnet
dem Menschen Raum und Zeit zur Gotteserfahrung in
allem, was ihm begegnet. Gotteserfahrung wird
möglich in allem, was wir tun und erleiden.
Das Eigentliche liegt in der Erfahrung der
göttlichen Wirklichkeit, aus der heraus die
Interpretation meiner Religiosität und die
Gestaltung meines Lebens kommen muss. Somit ist
Gott nicht nur in der Moschee oder in der Kirche zu
finden, sondern allgegenwärtig. Der Mystiker
Junus Emre hat dies so formuliert: "Illim illim
bilmektir . . . Weisheit ist, Weisheit zu kennen.
Kennst du dich selbst nicht, wie ist da Weisheit
möglich. Hodscha, wenn du magst. geh' 100 mal
auf Pilgerfahrt. Besser ist es, einzukehren in dein
Herz."
These 4: Gelebte
Mystik führt zu einer Verantwortung für
diese Welt
Die lebendige
Erfahrung des Anderen als eins mit mir bedeutet den
Tod des kleinen "Ich" - die Überwindung des
Egozentrismus. Dies führt zur
Einheitserfahrung mit dem Anderen und den
Geschöpfen. Ein Handeln, welches aus dieser
Erfahrung gespeist wird, wird die Grundlage
für eine Ethik, die sagt: "Deine Freude ist
meine Freude, dein Leid ist mein Leid". Eine daraus
gespeiste Handlung wird anders ausfallen als jene,
welche Nächstenliebe auf einem "du sollst" und
"du musst" begründet.
Nur wenn das Leid,
die Freude und das Leben des Anderen als eigenes
Leid, Freude und Leben empfunden wird, kann eine
neue Weltordnung entstehen. Jede Mystik ist in
diesem Sinne der Welt zugewandt, denn der Mystiker
kann nicht anders handeln als weltverantwortlich.
Bildlich gesprochen sagt das Auge auch nicht zur
Hand "ich liebe dich", da sie
zueinandergehören.
Daher wird es aus
dieser Sicht kein Fortschritte an den
Konfliktherden dieser Welt geben, wenn wir nicht in
der Lage sind, diese Form des Mitfühlens und
der Solidarität zu leben. Das Engagement
für die Welt ist kein Widerspruch zum
Engagement für Gott, nur eben aus der
Erfahrung heraus. Und dies ist der zentrale Punkt.
Der heilige Koran sagt hierzu: "Was immer du tust,
gedenke meiner, ob im Sitzen, Gehen, Stehen,
Liegen." Es gibt unter euch Menschen, die ihrem
Tagewerk nachgehen und keinen Augenblick von mir
getrennt sind. Diese Koranverse verweisen auf das
Sakrament des Augenblicks. Eine Mystik, die keine
soziale Verantwortung übernimmt und kein
soziales gesellschaftliches Engagement kennt, ist
eine Pseudomystik.
Es gibt keine vom
"Hier und Jetzt" abgehobene Transzendenz. Doch weil
sich der Mystiker ganz auf Gott ausrichtet, sieht
er in allem Gott. Er trägt Gott in allen
seinen Werken, und Gott ist in all seinen
Werken.
Der Koran hierzu:
". . . Und wenn ich mich einem Menschen in Liebe
nähere, bin ich das Auge, mit dem er blickt,
die Hand, mit der er greift, der Fuß, mit dem
er geht . . . Letztlich geht es um die
Selbsttranszendenz des einzelnen Individuums und
des Universums. Selbsttranszendenz des Universums
meint, dass es des sowohl des Individuums als auch
der Öffnung zum Ganzen hin bedarf. Eine Masche
macht auch erst im Kontext eines Netzes Sinn. Das
ganze Universum ist angelegt auf
Selbsttranszendenz. Wenn sich das Kleinere
verweigert, zum Größeren hin zu
öffnen, stellt es sich gegen diese
Selbsttranszendenz. Wir können den Begriff
"Selbsttranszendenz" auch mit "Liebe"
übersetzen. Liebe ist ein Sich-Öffnen und
eine Entgrenzung zum Anderen hin. Im Bild von Netz
und Masche geht es darum, seine menschliche
Identität aufrecht zu erhalten und
gleichzeitig offen zu sein für das
Ganze.
Somit geht es nicht
darum, Gott in Gebetshäusern und Riten zu
verehren, sondern Ihn im Alltag zu leben. Dies ist
der Auftrag an die Religionen.
Rumi sagte hierzu:
"Bis Schule und Minarett nicht zerbröckeln,
wird dies unser heiliges Werk nicht vollendet
sein.
Bis Glaube nicht zur Verwerfung und Verwerfung
nicht zu Glauben wird, gibt es keinen wahren
Muslim."
Was Rumi hier
meint, ist nicht die Verwerfung von Religion,
sondern vielmehr die lebendige Erfahrung dessen,
was die religiösen Bekenntnisse uns
verheißen.
Wiederum Manzur
Halladsch: "Meinst du, ich bete zu Gott um ihn
zufriedenzustellen? Gebet ist für Liebende
Unglauben. Ungläubig war ich nun für
Gottes Religion. Mir ist Unglaube Pflicht. Doch
schlecht bei den Muslimen. Da sprach Gott zu mir:
'Kehre lieber um, und folge mir nicht, es
könnte Dir schaden . . .'"
Zusammenfassung
Abschließend
und zusammenfassend möchte ich sagen - und
dies hat konkreten politischen und sozialen Bezug
zur Nah-Ost-Frage -, dass wir gemäß
bisheriger Aussagen spirituelle Wesen - also Geist
- sind, die für eine gewisse Zeit eine
menschliche Erfahrung machen.
Rumi: ". . . Zuerst
warst du Kristall und wandeltest dich zur Pflanze.
Dann wurdest du Tier. Ist dies Geheimnis dir
unbekannt? Später wurdest du Mensch, begabt
mit Wissen, Vernunft und Vertrauen. Betrachte
deinen Leib, eine Ansammlung von Staub, wie
vollkommen ist er gewachsen. Nachdem du deine Reise
als Mensch beendet hast, wirst du zum Engel werden,
sicherlich. Damit ist dein Dasein auf dieser Erde
zu Ende. Dein Ort ist der Himmel. Durchschreite
endlich auch das Engeldasein: Betritt den Ozean, in
dem du als Tropfen zum Meer werden kannst, eines
von hundert Meeren des Oman. Mach dich frei vom
Gedanken der persönlichen Geschlechterfolge,
sage 'Eins' von ganzer Seele. Wenn dein Körper
alt geworden ist, was tut's? Die Weltenseele ist
immer jung. . . ."
Wir sind letztlich
nicht durch Raum und Zeit von einander getrennte
materielle Wesen, die von Zeit zu Zeit eine
spirituelle Erfahrung machen, sondern wir sind
gemäß Rumis Zeilen Bewusstsein, welches
für eine gewisse Zeit eine menschliche
Ausdrucksform angenommen hat.
Die orthodoxe
Auslegung aller drei monotheistischen Religionen
führte dazu, dass aus einem Eingott- ein
Einziggottglaube wurde. Die größte
Gefahr geht nicht von jenen aus, welche sagen "Es
gibt keinen Gott", sondern von denen die behaupten
"Es gibt keinen Gott außer
meinem".
Spirituelle Ideen
müssen sich in sozialen Realitäten
widerspiegeln. Alle Religionsstifter waren
gleichermaßen soziale Revolutionäre, die
zu gelebter Solidarität aufrufen. So hat auch
der gegenwärtige Nahost-Konflikt hat eine
entscheidende soziale Dimension. Zentrales Element
zur Konfliktlösung ist die Zubilligung der
Rechtmäßigkeit des Anderen. Dabei sind
vier Fragen zu stellen, die danach aneinander
angenähert werden müssen. Wie sehe ich
mich? Wie sehe ich den Anderen? Wie sieht der
Andere sich selbst? Wie sieht der Andere
mich?
Ich bedanke mich
für Ihre Aufmerksamkeit.
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