Einheit
und Widerspruch
Vom
europäischen Menschen soll ich hier reden. Das
ist, glaubt mir, das Schwerste. ...
Der
europäische Mensch ist keineswegs so einfach
von einer landschaftlichen Eigentümlichkeit
her zu erfassen. Höchstens unter der des
Gebirges, welches in der Mitte Europas ragt: Der
Alpen.
Und
das ist nun freilich ein guter Ausgang. Denn etwas
davon hat der europäische Mensch an sich: das
Hinaufwollen nämlich, das Streben aus einer
behüteten Talwelt in die unbehütete des
Gefelses. Doch gekennzeichnet ist er davon alleine
nicht.
Gewiß,
er war einmal davon gekennzeichnet. Als
nämlich Europa noch eine Einheit war. Von
Cäsar bis Dante. Von der römischen
Monarchie bis zum christlich römischen
Weltreich und seiner Verklärung in der
Divinia Comedia. In diesen
Jahrhunderten konnte von einem einheitlich, der
Idee nach universellen Menschen gesprochen werden:
einem der Tüchtigkeit und Seligkeit
gleicherweise verankerten; der nach dem
Pflichtkatechismus des Cicero ebenso wie nach der
Heilslehre der Ecclesia lebte; der sich hier als
ein Ritter bewies und für das Dort als
Betender und Büßender vorbereitete.
Dieser Mensch sah in der Tat einem Alpenberge nicht
unähnlich: er war hart und fest und als innere
Gestalt besaß er einen Aufbau aus der
Sphäre der Sinnenwelt in die Sphäre des
reinen Geistes.
Doch
dieser Mensch gehört ebenso dem Gestern an,
wie das Europa der Einheit von Reich und Kirche das
Europa von gestern ist.
Inzwischen
ist vieles geschehen, vieles Verheerende und auch
vieles Anheimelnde.
Denn diese beiden gehören auf das
Geheimnisvollste zusammen: Verheerungen und
Anheimelungen.
Der
Widerspruch überhaupt ist der Kern unseres
Lebens. Das wissen wir nicht erst seit heute. Heute
aber müssen wir uns mit dem Widerspruch zu
befreunden versuchen; dieweil die Menschen von
gestern sich dem Widerspruch entheben zu
können vermeinten - und dies, wenn zwar meist
erfolglos, in einigen hervorragenden Erscheinungen
dennoch vollführten.
Dante
beispielsweise enthob sich dem Widerspruch in
seiner dichterischen Gewaltsamkeit.
Gewaltsamkeit:
dieses Wort wähle ich (F. Petrarca) ganz
bewusst. Denn tatsächlich muss einer, der den
Widerspruch auflösen will, Gewalt brauchen.
Weshalb wir dann die die sogenannten
Persönlichkeiten, die wir auf die Sockel
stellen, beinahe stets als sehr unbequeme und
rücksichtlose Genossen der Geschichte
empfinden. Und sicher nicht nur empfinden, sondern
in ihrer Art nach sind sie es auch.
Hier
nun haben wir schon die ganze Misere des
Menschlichen vor uns. Wenn wir ein Mensch ohne
Widerspruch sein wollen, müssen wir ein
Gewaltmensch werden. Ob als Staatsmann oder als
Dichter, als Bischof oder als General: wir
müssen einer einzigen Lebensweise das Wort
sprechen und sie verallgemeinern. Und die anderen
werden dann als zweitrangig oder sogar als
schädlich bekämpft und vernichtet.
Und
wir sind dann nicht, wie wir uns auch nennen, treue
Söhne der Kirche oder das Heimatlandes, der
Kunst oder der Wissenschaft - sind wir da nicht, in
einer entsetzlichen Umkehrung - in jene
kannibalische Wildheit zurückgeworfen, die wir
mit Kirche und Heimatland, mit Kunst und mit
Wissenschaft gerade auszurotten im Begriffe waren -
und bis zu einem hohen Grade auch ausrotteten ?
Nein,
meine Freunde, um Menschen zu werden, dürfen
wir uns dem Widerspruch nicht entheben. Und heute
schon ganz und gar nicht.
Denn
heute leben wir auf zweierlei Weise: in der
Waagrechten und in der Senkrechten.
Und
das ist gefährlich, es ist ein
immerwährendes Abenteuer. Aber es ist recht
eigentlich auch das Leben im
Kreuz.
Das
"i" und das "-"
Gestern
noch herrschte die Senkrechte ausschließlich:
in die Höhe des Heils hinein war der Mensch
gereckt. Alle Bildner und Maler entleibten den
Körper zu Strichen, dörrten sie aus,
entfleischten sie. Nur noch wie steile Lichter auf
Kerzen sollten sie in den Himmel hineinragen.
Sündig Gebein, schändliches Blut,
verführende Natur, mit Dämonen
bevölkert in jedem Schmetterling und in jeder
Maienblüte - das war die Meinung, bis jener
Mann aus Assisi die Vögel bei sich versammelte
und zur Erde das Du zu sagen begann.
Und
überhaupt: Du sagte, statt ich. Und
damit auf etwas zeigte, was bisher im Dunkel
lag.
Denn Du - das klingt ja wahrhaft dunkel, grufthaft
und trotzdem - gut.
Nun,
dieser Mann aus Assisi, den ich aufs höchste
verehre, wies statt in die Höhe in die Breite.
Und nicht nur zum Nachbarn sagte er Du, sondern
auch zum Tier und zur Pflanze, zum Mond, zur Sonne
und zu den Planeten. Er redete alles Geschaffene an
und rühmte es vom Schöpfer Geschaffenes -
und zwar nicht als Stoff, der um des Geistes willen
abgestreift werden sollte, wie es bislang verlangt
worden war, sondern als Werk, das der Schöpfer
geschaffen hatte: nicht, dass es ihm ständig
ein Vorwurf sei, sondern zu einer Freude und um
sich darinnen zu spiegeln und zu bestätigen.
Und
wenn er Tier und Pflanzen, Sonne, Mond und Planeten
geschaffen hatte, dass sie ihm Lust bereiteten und
er sich darin zu behagen und mit ihnen zu spielen
vermöchte - warum sollte er dem Menschen in
seinem Leibe nicht ebenfalls zu seiner Wonne, zu
seinem Entzücken, zum Genuß seiner
Gegenwart, der großen, der goldenen,
geschaffen haben ?
So
gewann jener Mann aus Assisi uns allen die breite
Welt um uns herum. Und gab uns einen Sinn als
Spielfreude Gottes in der Waagrechten, der reichen
Fläche - ohne uns freilich unseren Sinn in der
Senkrechten zu entfernen.
Das
Leben im Kreuz
Das
aber meine ich mit dem Leben im Kreuz, das wir
nunmehr zu leben gezwungen sind. Wir sind in Natur
und Geist gleicherweise zu leben gerufen.
Zwei Lebensweisen in einem Menschen, das ist die
Lebensweise, die uns gebürt.
Und
durchaus nicht immer - ja nur sehr selten, nur wenn
sich die beiden Lebensweisen in ihrer Mitte, im
Schnittpunkt treffen - sind sie vereint. Sonst
liegen sie auseinander.
Das
zu erfahren, ist schwer. Wie schwer, das wisst ihr
alle, die ihr einmal, heute, nämlich, wenn ihr
euch um euer Haus sorgt, um euer Weib, um die
Notdurft, oder wenn ihr den Duft des Frühlings
einsaugt oder die Herbheit des Mistrals, ganz Erde
seid, Geschöpfe in der Waagrechten, ganz
Pflicht und Arbeit, auch Wonne, Wollust und Rausch.
Und die ihr das andere Mal, wenn ihr in der Kirche
seid oder einem Dichter nachsinnt, oder dem einmal
betretenen Pfad zur Ewigkeit, ganz Hauch seid,
Wesen in der Senkrechten, ganz Aufbruch und
Erkenntnis oder Ahnung und Begehren zum ganz
Anderen hin.
Und
dass ihr das einfach bestehen müsst, wisst
ihr. Ihr müsst den Widerspruch annehmen und
aushalten. Genauso wie ein Staat, ja auch eine
Kirche wissen, dass sie sich aus dieser Zweiheit
nicht abzumelden vermögen. Tragen müssen
wir den Widerspruch unseres Lebens. Und dazu Kraft
geben uns freilich die wenigen, aber kostbaren und
entschädigenden Augenblicke, in denen wir
Waagrechte und Senkrechte unseres Lebens vereinen:
wir also im Schnittpunkt der Linien sind, im
Kreuzespunkt, der allerdings, so beglückend er
strahlt, zugleich auch Punkt unseres Sterbens ist.
Allerdings eines Sterbens mit Sterne des
Auferstehens - wie das Sterben Jesu Christi am
Kreuz.
Oder
habt ihr dieses Mysterium nicht alle bereits erlebt
? In der Liebe, wenn Mann und Weib miteinander
verbunden sind ? Oder in der Kunst, wenn sich der
Schaffende auf die leich-teste Weise mit der Form
verquickt ? Oder in der großen Politik, wenn
eine Friedensfeier die Völker zum
Übersteigen ihrer Schwere, ihrer lastenden
Eigenheiten, Sorgen und Ehrgeize treibt ?
In
solchen Augenblicken, in denen wir höchst
beglückt, nächst dem Tode, auch heiligst
der Auferstehung zugeordnet sind, leben wir
Göttliches. Das wissen wir.
Doch
in den anderen: den Tagen, Wochen, Monaten, Jahren,
Jahrzehnten ? Sind wir da nicht auseinandergerissen
? Quälen wir uns da nicht mit unserem Zweifel
herum ? Und wie wir Menschen es leiden, leiden es
nicht ebenso die aus vielen Menschen gebildeten
Wesen - die Staaten, die Kirche und Europa ?
Und
doch dürfen wir dieses
Auseinandergerissensein, so sehr es uns stickt und
stachelt, nicht als Verdammnis empfinden, sondern
müssen es tragen als die Weise in der
Spielwiese Gottes. Seht - und erlaubt mir jetzt,
vom Europäer zu sprechen: ein solcher Mensch
ist der Europäer. Er ist ein
Auseinandergerissener, einer, der in der Natur und
Geist gleichwie zu leben gezwungen ist, beides
erfüllend, an einem leidend, ein Mensch im
Widerspruch, aber in einem heiligen Widerspruch:
ein Mensch im Kreuz.
Nicht
also ein Berg allein, sondern auch Tal,
nicht ein Bürger allein, sondern auch ein
Vagabund,
nicht ein Erhalter allein, sondern auch ein
Rebell,
nicht ein Gläubiger allein, sondern auch ein
Zweifler,
nicht ein Krieger allein, sondern auch ein
Kriegsverabscheuer - das ist der
Europäer.
Er
ist ein Mensch aus zwei Menschen.
Er hat auch immer zwei Vaterländer: das seines
Volkes und das der Völkergemeinschaft.
Und hat auch immer zwei Mutterländer: das
seiner Familie und das seiner Religion.
Fürchtet
euch also nicht vor dieser Eröffnung, meine
Freunde, so fürchterlich sie in ihren Folgen
auch sein könnte. Denn ein
Auseinandergerissener könnte eines Tages auch
ein Zerissener sein. Und wieviele haben diese
Zerreißprobe ihres Lebens, diese Spannung
zwischen den zwei Polen, ihrer selbst und ihres
Umkreises, nicht ertragen !
Denn
wir leben auf der Erde nun einmal nicht im
Paradies. Und das zeichnet uns Europäer
tatsächlich aus: dass wir nicht glauben, hier
auf der Erde jemals in einem Paradies zu leben.
Andere
sind der Meinung, drüben im Osten, im Reiche
der Goldenen Horde. Da glauben die Menschen, sie
könnten das Paradies vorwegnehmen,
könnten hier auf Erden schon die Gefilde der
Seligen stiften.
Wir,
meine Freunde, wissen, dass diese Welt, solange sie
besteht, unvollkommen sein wird und niemals das
Reich Gottes werden kann, obwohl freilich
Vorhöfe des Reiches Gottes auch schon hier
vorhanden sind. Es sind eben die Augenblicke, in
denen die zwei Menschen in uns eins werden, in
denen sich Senkrechte und Waagrechte schneiden,
jene Augenblicke im Kreuz, wo wir - nach
mühseligen Schleppen der Lasten -
Nämliches wie Jesus Christus, in Sterben und
Auferstehen zugleich erfahren.
Das
sind die Vorhöfe des Reiches Gottes. Sonst
aber gibt es hier keine Vollendung. Und jede
Schönheit ist nur ein Gleichnis. Und was wir
schaffen, ist nur ein Stückwerk, wenn freilich
durchleuchtet von dem, der uns liebt, von seinen
Blicken durchströmt, die uns nimmer verlassen,
weswegen wir auch nicht traurig zu sein brauchen.
So
ende ich meine Rede vom europäischen Menschen
am besten damit, dass ich euch bitte die Hände
zu falten. Der europäische Mensch, von dem zu
sprechen ich mich bemühte, ist nämlich
kein anderer als der in Jesus Christus
beschlossene, ihm Nachfolgende. Der wie er
Sterbende und Auferstehende.
Wer
in Christo lebt, lebt in Europa. Das überhaupt
ist der Vorteil dieses Erdteils, der kein Erdteil,
sondern eine Welt in der Welt ist und, wie wir
meinen, ihre Krone und ihr Herz: dass der Sohn
Gottes hier erschien. Und nicht nur einmal, sondern
immer wieder erscheint er. Nicht nur in denen, die
sein Wort auf den Lippen haben, sondern auch in
seinen Widersachern. In jedem einzelnen von uns,
gleich welchen Glaubens er sei. Gleich, welchen
Volkes er angehöre.
In
jeden einzelnen von uns erscheint er, wenn wir die
Spannung ertragen, die er ertrug: die zwischen Gott
und der Kreatur - und uns darin adeln.
Und wenn wir wie er das Kreuz nicht verabscheuen,
sondern auf uns nehmen, um daran zu sterben, aber
auch aufzuerstehen.
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