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G E R D s

E L E V E N T Y

E U R O P A

Rede vom europäischen Menschen

von Francesco Petrarca

Einheit und Widerspruch

“Vom europäischen Menschen soll ich hier reden. Das ist, glaubt mir, das Schwerste. ...

Der europäische Mensch ist keineswegs so einfach von einer landschaftlichen Eigentümlichkeit her zu erfassen. Höchstens unter der des Gebirges, welches in der Mitte Europas ragt: Der Alpen.

Und das ist nun freilich ein guter Ausgang. Denn etwas davon hat der europäische Mensch an sich: das Hinaufwollen nämlich, das Streben aus einer behüteten Talwelt in die unbehütete des Gefelses. Doch gekennzeichnet ist er davon alleine nicht.

Gewiß, er war einmal davon gekennzeichnet. Als nämlich Europa noch eine Einheit war. Von Cäsar bis Dante. Von der römischen Monarchie bis zum christlich römischen Weltreich und seiner Verklärung in der “Divinia Comedia”. In diesen Jahrhunderten konnte von einem einheitlich, der Idee nach universellen Menschen gesprochen werden: einem der Tüchtigkeit und Seligkeit gleicherweise verankerten; der nach dem Pflichtkatechismus des Cicero ebenso wie nach der Heilslehre der Ecclesia lebte; der sich hier als ein Ritter bewies und für das Dort als Betender und Büßender vorbereitete. Dieser Mensch sah in der Tat einem Alpenberge nicht unähnlich: er war hart und fest und als innere Gestalt besaß er einen Aufbau aus der Sphäre der Sinnenwelt in die Sphäre des reinen Geistes.

Doch dieser Mensch gehört ebenso dem Gestern an, wie das Europa der Einheit von Reich und Kirche das Europa von gestern ist.

Inzwischen ist vieles geschehen, vieles Verheerende und auch vieles Anheimelnde.
Denn diese beiden gehören auf das Geheimnisvollste zusammen: Verheerungen und Anheimelungen.

Der Widerspruch überhaupt ist der Kern unseres Lebens. Das wissen wir nicht erst seit heute. Heute aber müssen wir uns mit dem Widerspruch zu befreunden versuchen; dieweil die Menschen von gestern sich dem Widerspruch entheben zu können vermeinten - und dies, wenn zwar meist erfolglos, in einigen hervorragenden Erscheinungen dennoch vollführten.

Dante beispielsweise enthob sich dem Widerspruch in seiner dichterischen Gewaltsamkeit.

Gewaltsamkeit: dieses Wort wähle ich (F. Petrarca) ganz bewusst. Denn tatsächlich muss einer, der den Widerspruch auflösen will, Gewalt brauchen. Weshalb wir dann die die sogenannten Persönlichkeiten, die wir auf die Sockel stellen, beinahe stets als sehr unbequeme und rücksichtlose Genossen der Geschichte empfinden. Und sicher nicht nur empfinden, sondern in ihrer Art nach sind sie es auch.

Hier nun haben wir schon die ganze Misere des Menschlichen vor uns. Wenn wir ein Mensch ohne Widerspruch sein wollen, müssen wir ein Gewaltmensch werden. Ob als Staatsmann oder als Dichter, als Bischof oder als General: wir müssen einer einzigen Lebensweise das Wort sprechen und sie verallgemeinern. Und die anderen werden dann als zweitrangig oder sogar als schädlich bekämpft und vernichtet.

Und wir sind dann nicht, wie wir uns auch nennen, treue Söhne der Kirche oder das Heimatlandes, der Kunst oder der Wissenschaft - sind wir da nicht, in einer entsetzlichen Umkehrung - in jene kannibalische Wildheit zurückgeworfen, die wir mit Kirche und Heimatland, mit Kunst und mit Wissenschaft gerade auszurotten im Begriffe waren - und bis zu einem hohen Grade auch ausrotteten ?

Nein, meine Freunde, um Menschen zu werden, dürfen wir uns dem Widerspruch nicht entheben. Und heute schon ganz und gar nicht. Denn heute leben wir auf zweierlei Weise: in der Waagrechten und in der Senkrechten.

Und das ist gefährlich, es ist ein immerwährendes Abenteuer. Aber es ist recht eigentlich auch das Leben im Kreuz.

 

Das "i" und das "-"

Gestern noch herrschte die Senkrechte ausschließlich: in die Höhe des Heils hinein war der Mensch gereckt. Alle Bildner und Maler entleibten den Körper zu Strichen, dörrten sie aus, entfleischten sie. Nur noch wie steile Lichter auf Kerzen sollten sie in den Himmel hineinragen. Sündig Gebein, schändliches Blut, verführende Natur, mit Dämonen bevölkert in jedem Schmetterling und in jeder Maienblüte - das war die Meinung, bis jener Mann aus Assisi die Vögel bei sich versammelte und zur Erde das Du zu sagen begann.

Und überhaupt: Du sagte, statt ich. Und damit auf etwas zeigte, was bisher im Dunkel lag.
Denn Du - das klingt ja wahrhaft dunkel, grufthaft und trotzdem - gut.

Nun, dieser Mann aus Assisi, den ich aufs höchste verehre, wies statt in die Höhe in die Breite. Und nicht nur zum Nachbarn sagte er Du, sondern auch zum Tier und zur Pflanze, zum Mond, zur Sonne und zu den Planeten. Er redete alles Geschaffene an und rühmte es vom Schöpfer Geschaffenes - und zwar nicht als Stoff, der um des Geistes willen abgestreift werden sollte, wie es bislang verlangt worden war, sondern als Werk, das der Schöpfer geschaffen hatte: nicht, dass es ihm ständig ein Vorwurf sei, sondern zu einer Freude und um sich darinnen zu spiegeln und zu bestätigen.

Und wenn er Tier und Pflanzen, Sonne, Mond und Planeten geschaffen hatte, dass sie ihm Lust bereiteten und er sich darin zu behagen und mit ihnen zu spielen vermöchte - warum sollte er dem Menschen in seinem Leibe nicht ebenfalls zu seiner Wonne, zu seinem Entzücken, zum Genuß seiner Gegenwart, der großen, der goldenen, geschaffen haben ?

So gewann jener Mann aus Assisi uns allen die breite Welt um uns herum. Und gab uns einen Sinn als Spielfreude Gottes in der Waagrechten, der reichen Fläche - ohne uns freilich unseren Sinn in der Senkrechten zu entfernen.

 

Das Leben im Kreuz

Das aber meine ich mit dem Leben im Kreuz, das wir nunmehr zu leben gezwungen sind. Wir sind in Natur und Geist gleicherweise zu leben gerufen.
Zwei Lebensweisen in einem Menschen, das ist die Lebensweise, die uns gebürt.

Und durchaus nicht immer - ja nur sehr selten, nur wenn sich die beiden Lebensweisen in ihrer Mitte, im Schnittpunkt treffen - sind sie vereint. Sonst liegen sie auseinander.

Das zu erfahren, ist schwer. Wie schwer, das wisst ihr alle, die ihr einmal, heute, nämlich, wenn ihr euch um euer Haus sorgt, um euer Weib, um die Notdurft, oder wenn ihr den Duft des Frühlings einsaugt oder die Herbheit des Mistrals, ganz Erde seid, Geschöpfe in der Waagrechten, ganz Pflicht und Arbeit, auch Wonne, Wollust und Rausch. Und die ihr das andere Mal, wenn ihr in der Kirche seid oder einem Dichter nachsinnt, oder dem einmal betretenen Pfad zur Ewigkeit, ganz Hauch seid, Wesen in der Senkrechten, ganz Aufbruch und Erkenntnis oder Ahnung und Begehren zum ganz Anderen hin.

Und dass ihr das einfach bestehen müsst, wisst ihr. Ihr müsst den Widerspruch annehmen und aushalten. Genauso wie ein Staat, ja auch eine Kirche wissen, dass sie sich aus dieser Zweiheit nicht abzumelden vermögen. Tragen müssen wir den Widerspruch unseres Lebens. Und dazu Kraft geben uns freilich die wenigen, aber kostbaren und entschädigenden Augenblicke, in denen wir Waagrechte und Senkrechte unseres Lebens vereinen: wir also im Schnittpunkt der Linien sind, im Kreuzespunkt, der allerdings, so beglückend er strahlt, zugleich auch Punkt unseres Sterbens ist. Allerdings eines Sterbens mit Sterne des Auferstehens - wie das Sterben Jesu Christi am Kreuz.

Oder habt ihr dieses Mysterium nicht alle bereits erlebt ? In der Liebe, wenn Mann und Weib miteinander verbunden sind ? Oder in der Kunst, wenn sich der Schaffende auf die leich-teste Weise mit der Form verquickt ? Oder in der großen Politik, wenn eine Friedensfeier die Völker zum Übersteigen ihrer Schwere, ihrer lastenden Eigenheiten, Sorgen und Ehrgeize treibt ?

In solchen Augenblicken, in denen wir höchst beglückt, nächst dem Tode, auch heiligst der Auferstehung zugeordnet sind, leben wir Göttliches. Das wissen wir.

Doch in den anderen: den Tagen, Wochen, Monaten, Jahren, Jahrzehnten ? Sind wir da nicht auseinandergerissen ? Quälen wir uns da nicht mit unserem Zweifel herum ? Und wie wir Menschen es leiden, leiden es nicht ebenso die aus vielen Menschen gebildeten Wesen - die Staaten, die Kirche und Europa ?

Und doch dürfen wir dieses Auseinandergerissensein, so sehr es uns stickt und stachelt, nicht als Verdammnis empfinden, sondern müssen es tragen als die Weise in der Spielwiese Gottes. Seht - und erlaubt mir jetzt, vom Europäer zu sprechen: ein solcher Mensch ist der Europäer. Er ist ein Auseinandergerissener, einer, der in der Natur und Geist gleichwie zu leben gezwungen ist, beides erfüllend, an einem leidend, ein Mensch im Widerspruch, aber in einem heiligen Widerspruch: ein Mensch im Kreuz.

 

Nicht also ein Berg allein, sondern auch Tal,
nicht ein Bürger allein, sondern auch ein Vagabund,
nicht ein Erhalter allein, sondern auch ein Rebell,
nicht ein Gläubiger allein, sondern auch ein Zweifler,
nicht ein Krieger allein, sondern auch ein Kriegsverabscheuer - das ist der Europäer.

Er ist ein Mensch aus zwei Menschen.
Er hat auch immer zwei Vaterländer: das seines Volkes und das der Völkergemeinschaft.
Und hat auch immer zwei Mutterländer: das seiner Familie und das seiner Religion.

Fürchtet euch also nicht vor dieser Eröffnung, meine Freunde, so fürchterlich sie in ihren Folgen auch sein könnte. Denn ein Auseinandergerissener könnte eines Tages auch ein Zerissener sein. Und wieviele haben diese Zerreißprobe ihres Lebens, diese Spannung zwischen den zwei Polen, ihrer selbst und ihres Umkreises, nicht ertragen !

 

Denn wir leben auf der Erde nun einmal nicht im Paradies. Und das zeichnet uns Europäer tatsächlich aus: dass wir nicht glauben, hier auf der Erde jemals in einem Paradies zu leben.

Andere sind der Meinung, drüben im Osten, im Reiche der Goldenen Horde. Da glauben die Menschen, sie könnten das Paradies vorwegnehmen, könnten hier auf Erden schon die Gefilde der Seligen stiften.

Wir, meine Freunde, wissen, dass diese Welt, solange sie besteht, unvollkommen sein wird und niemals das Reich Gottes werden kann, obwohl freilich Vorhöfe des Reiches Gottes auch schon hier vorhanden sind. Es sind eben die Augenblicke, in denen die zwei Menschen in uns eins werden, in denen sich Senkrechte und Waagrechte schneiden, jene Augenblicke im Kreuz, wo wir - nach mühseligen Schleppen der Lasten - Nämliches wie Jesus Christus, in Sterben und Auferstehen zugleich erfahren.

Das sind die Vorhöfe des Reiches Gottes. Sonst aber gibt es hier keine Vollendung. Und jede Schönheit ist nur ein Gleichnis. Und was wir schaffen, ist nur ein Stückwerk, wenn freilich durchleuchtet von dem, der uns liebt, von seinen Blicken durchströmt, die uns nimmer verlassen, weswegen wir auch nicht traurig zu sein brauchen.

So ende ich meine Rede vom europäischen Menschen am besten damit, dass ich euch bitte die Hände zu falten. Der europäische Mensch, von dem zu sprechen ich mich bemühte, ist nämlich kein anderer als der in Jesus Christus beschlossene, ihm Nachfolgende. Der wie er Sterbende und Auferstehende.

Wer in Christo lebt, lebt in Europa. Das überhaupt ist der Vorteil dieses Erdteils, der kein Erdteil, sondern eine Welt in der Welt ist und, wie wir meinen, ihre Krone und ihr Herz: dass der Sohn Gottes hier erschien. Und nicht nur einmal, sondern immer wieder erscheint er. Nicht nur in denen, die sein Wort auf den Lippen haben, sondern auch in seinen Widersachern. In jedem einzelnen von uns, gleich welchen Glaubens er sei. Gleich, welchen Volkes er angehöre.

In jeden einzelnen von uns erscheint er, wenn wir die Spannung ertragen, die er ertrug: die zwischen Gott und der Kreatur - und uns darin adeln.
Und wenn wir wie er das Kreuz nicht verabscheuen, sondern auf uns nehmen, um daran zu sterben, aber auch aufzuerstehen.

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