von
Johannes (zu seinen bisherigen Worten der
Ausgabe, bzw. des Monats)
Tempora
mutantur et nos mutamur in
illis,
wie es so schön auf Latein heißt: Die
Zeiten ändern sich und wir ändern uns in
ihnen.
Das
ist eine unvermeidliche Tatsache; mittlerweile bin
ich sogar der Meinung, dass unser Konzept von
Zeit einfach nur ein Hilfskonstrukt
ist, um die Tatsache auszudrücken, dass sich
Dinge verändern können. Wie auch immer,
wir verändern uns, mit jedem Atemzug zumindest
auf biochemischer Ebene, aber über
längere Zeit auch durch die Art, wie wir uns
bewegen, wie oft und wie viel, wie wir altern und
dergleichen mehr: Wir sehen anders aus als
früher. (Wofür wir dankbar sein sollten,
sonst sähen wir alle wie Neugeborene aus
...)
Und
vor allem ändert sich auch unser bewusstes und
unbewusstes Ich durch unsere Erlebnisse, Handlungen
und Überlegungen. Vereinfacht formuliert wird
das Gehirn richtig gut darin, was man damit tut:
Wenn ich es nütze, um stumpfsinnig die Wand
anzustarren, werde ich ein
gewohnheitsmäßiger großartiger
Wandanstarrer werden. Wenn ich es verwende, um
kreativ zu sein, werde ich diese Fertigkeiten
trainieren, wenn ich es verwende, um zu denken und
zu lernen, werde ich darin besser (und
natürlich auch mehr lernen) und so weiter und
so fort.
Nicht
nur das, auch die äußeren Umstände
ändern sich beständig. Beispielsweise
neue Lebensumstände wie neuer Beruf, neue
Hobbys, neuer Wohnsitz und dergleichen mehr. Gerade
diese Dinge haben mein Leben in den letzten Jahren
wiederholt auf den Kopf gestellt oder eigentlich:
verdreht, denn so viele Köpfe kann mein Leben
ja gar nicht haben. Jedenfalls hat es sich enorm
verändert, wie es mir geht, wie ich lebe und
wie ich meine Zeit verbringe.
Gedankensprung:
Auch andere Menschen verändern sich, genauso
wie ich, das ist schon vollkommen klar. Und
natürlich verändern sie sich auf eine Art
und Weise, die ihren Erfahrungen und Erlebnissen
entspricht. An dieser Stelle muss etwas sehr
Wichtiges festgestellt werden: Ein Erlebnis ist
ebenso von dem abhängig, was passiert, wie
davon, wie es interpretiert wird. Interpretiert
wird es an Hand der früheren Erlebnisse und
dabei wird es so gefiltert, dass es zu dem passt,
was wir bisher gelernt und erlebt haben.
Verkürzt gesagt werden wir mit der
Realität nur durch mehrere Schleier
konfrontiert:
Der
erste Filter sind unsere extrem selektiven
Sinnesorgane, die von all dem Wahrnehmbaren nur
einen Bruchteil tatsächlich wahrnehmen
können.
Dann
folgt erst mal die instinktive Filterung, was davon
wichtig ist und was nicht; das meiste wird als
unwichtig ausgefiltert. Dabei wird auch eine
eventuelle Bedrohung eruiert sowie erste Reaktionen
ausgelöst; gewissermaßen sind hier
(kompliziertere) Reflexe und instinktive Reaktionen
angesiedelt, etwa das Zusammenzucken beim
Erschrecken, das passiert, bevor unser Bewusstsein
überhaupt von dem Auslöser des
Erschreckens informiert wird.
Hiernach
folgt eine emotionale Filterung, die dem
Wahrgenommenen gefühlsmäßige
Bedeutung verleiht, und zwar abhängig von
früheren Erlebnissen. Deshalb können zwei
Leute in exakt derselben Situation exakt
entgegengesetzte Erlebnisse haben. Wenn zum
Beispiel eine extravertierte Person auf der
Bühne steht und alle sehen sie an und
hören ihr während der Darbietung zu, kann
das für sie enorm aufbauend und schön
sein. Für eine schüchterne oder gar
sozial phobische Person ist das eine grauenhafte
Situation, selbst wenn exakt dasselbe passiert,
objektiv betrachtet.
Das
Ergebnis dieser beiden Filterungen wird dann noch
mit unseren bisherigen Erfahrungen und Gedanken
abgeglichen. Das bedeutet nichts Anderes, als dass
alles, was unsere bisherige Meinung bestätigt,
als richtig und wichtig
markiert wird, alles, was unseren bisherigen Ideen
und Erfahrungen widerspricht, als
falsch und irrelevant
aussortiert wird. Zumindest, soweit es möglich
ist, denn ab einer gewissen Intensität der
Erfahrung kann sie nicht mehr aussortiert werden,
sonst könnten wir ja gar nichts dazulernen.
Dann können wir sie immer noch bewusst
fehlinterpretieren, verzerren, um sie in unser
System einzufügen oder sogar einsehen, dass
unser System erweitert und korrigiert werden muss.
Im extremsten Fall können wir sogar erkennen,
dass wir bisher unrecht hatten und unsere Meinung
komplett ändern.
Jedenfalls
wird alles, was wir von außen wahrnehmen
können, durch mehrere Schleier gefiltert, ehe
es in unser Bewusstsein dringt. Richard Feynman,
seines Zeichens Quantenphysiker, sagte so
schön: The first principle is that you
must not fool yourself, and you are the easiest
person to fool. Frei übersetzt: Das
oberste Prinzip ist es, dich selbst nicht zu
täuschen, und du selbst bist am leichtesten zu
täuschen.
Es
gibt nun zwei Extrempositionen, wie damit
umgegangen werden kann.
Extremposition
eins lautet: Ich muss versuchen, die Wirkung der
Schleier auszugleichen.
Gewissermaßen
misstraut diese Position jedwedem Erleben
grundsätzlich und versucht,
ausschließlich (am besten durch Maschinen)
messbare Ergebnisse auf mathematische Weise zu
verarbeiten. Am besten ist diese Position durch
Naturwissenschaft und Technik demonstriert, die
damit durchaus vorzeigbare Erfolge haben. Wie
jemand so schön sagte: Warum hatte Cäsar
keine Luftwaffe? Die Zeit zwischen dem antiken
Griechenland, in dem die Philosophen durchaus
zutreffende Vorstellungen ihrer Umwelt entwickelt
hatten, und Cäsars Zeit ist genauso lang wie
zwischen dem Mittelalter und uns heute, und im
Mittelalter gab es eine erheblich weniger
zutreffende Vorstellung, auf der aufgebaut werden
musste.
Die
Antwort lautet: Weil die Grundidee der Philosophen
war, dass die Welt Regeln folgen müsse, und
wer die Regeln nur ergrübelt hätte,
könnte daher die ganze Welt erklären. Mit
Beginn der Neuzeit kam als neue Idee dazu, dass wir
die Regeln nur durch Beobachtung erkennen
könnten, dass unser Denken, Erkennen und
Erleben fehlerhaft sein können und wir daher
ausprobieren müssen, ob unsere Gedanken
richtig sind. Jedwede Beeinflussung unserer
Gedanken durch unsere individuellen Erlebnisse und
Gefühle sind dabei ausschließlich
Störfaktoren. Gewissermaßen lautet diese
Position, dass die Schleier meine gesamte
Wahrnehmung und Interpretation dieser Wahrnehmung
verzerren, ich jedoch die Chance habe, auf Grund
weiterer, eindeutiger Erfahrungen eine
überprüfbare und ständig zu
korrigierende Idee zu entwickeln, wobei
geübtes und möglichst emotionsfreies
Denken und Ausprobieren die Wirkung der Schleier in
einem Teilgebiet ausreichend aufheben können,
um eine hinlänglich korrekte Vorstellung der
Realität zu erarbeiten.
Um
ein Beispiel zu bringen: Wasser ist eine Substanz
mit mehreren paradoxen Eigenschaften (etwa:
größte Dichte bei ca. 4 °C), die
aus Molekülen besteht, die aus einem
Sauerstoff- und zwei Wasserstoffatomen
zusammengesetzt sind und dank des Winkels zwischen
den Wasserstoffatomen einen schwachen Dipol bilden
und somit Ionen gut lösen können. Es
erstarrt auf Meeresspiegelniveau bei 0 °C
unter Bildung regelmäßig angeordneter
hexagonaler Kristalle und kocht bei 100 °C,
wobei die einzelnen Moleküle ihren
Zusammenhalt verlieren und in gasförmigen
Zustand übergehen. Auf Dinge wie Orbitale und
chemische Bindungsstärke gehe ich hier nicht
weiter ein, es ist wohl klar, was ich hier sagen
will.
Extremposition
zwei lautet: Ich muss lernen, die Schleier
aufzuheben.
Gewissermaßen
wird hier wahre Erkenntnis von den Prozessen der
Verarbeitung, also den Gefühlen und
Instinkten, erwartet, nicht vom Ausprobieren oder
genaueren (oder gar maschinengestützten)
Betrachten. Es kommt darauf an, die unmittelbare
und möglichst unverfälschte eigene
Reaktion wahrzunehmen, und zwar die möglichst
"tiefe", also möglichst wenig durch das eigene
Bewusstsein verzerrte, Wahrnehmung, da diese das
eigentliche Wesen der Dinge offenbart oder
idealerweise damit übereinstimmt. Sozusagen
wird das selbstverständlich Wahrgenommene, das
als richtig Empfundene, mit dem Wahren und
Richtigen gleichgesetzt, wobei Überlegungen
oder Gedanken allenfalls als Verzerrung oder
oberflächliches Kratzen an der nur
gefühlsmäßig erfahr- und
erkennbaren Realität betrachtet
werden.
Ich
möchte so weit gehen, zu sagen, dass hierbei
die Schleier als innerhalb meiner
Wahrnehmungsverarbeitung positioniert angesehen
werden: Sie sind zwischen Wahrnehmung und
Interpretation angesiedelt, sodass eine
unmittelbare und korrekte Erfahrung der
Realität durchaus möglich ist, sofern es
nur gelingt, die einschränkende Interpretation
hintanzustellen. Eine zutreffende Vorstellung kann
also dadurch gewonnen werden, dass es gelingt, eine
Sache wirklich und vollständig zu erleben,
ohne dieses Erleben durch die eigenen Gedanken oder
persönlichen Gefühle zu
verzerren.
Um
das Beispiel noch einmal zu bringen: Wasser ist ein
reinigender, lebensspendender und mit unseren
Gefühlen zusammenhängender Stoff, der
rätselhaft und wandelbar, aber auch
aufopferungsbereit und nährend ist und zu
Bewegung und Wachstum anregt, ohne dabei die
Leichtigkeit und Ungebundenheit der Luft zu
besitzen.
Gedankensprung
zwei: Wenn zwei Menschen miteinander einen Weg
gehen und an eine Y-förmige Kreuzung kommen,
bei der der eine Mensch den linken, der andere
jedoch den rechten Weg nehmen muss, dann
können sie zumindest vorläufig nicht mehr
denselben Weg miteinander gehen.
Gedankensprung
drei: Das eigentlich Traurige ist, dass die
Realität vollkommen unabhängig davon ist,
was wir darüber denken - und umgekehrt. Die
Realität interessiert sich nicht dafür,
was wir denken, wir können uns aber ebenso gut
entscheiden (meist unbewusst), die Realität
nicht zur Kenntnis zu nehmen, weil das unseren
Gefühlen nicht passt.
Einer
meiner liebsten Irrtümer ist die sogenannte
falsche Dichotomie: Sehr oft wird gestritten, ob
etwas oder jemand in eine oder die andere Kategorie
passt, als ob diese einander ausschließen
würden. Gerade in Überschriften passiert
das ausgesprochen gerne, etwa Fragen wie
Brillanter Kopf oder Gemeiner
Verbrecher?, um es ein wenig zu
überzeichnen. Das ist eine falsche Dichotomie,
denn ein Mensch kann problemlos beides sein, diese
Kategorien schließen einander überhaupt
nicht aus.
Andererseits
fällt es schwer, Denkweisen zu vereinen, die
mit einander ausschließenden Methoden zu
einander ausschließenden Ergebnissen kommen.
Ganz besonders, wenn es keinen gemeinsamen
Sprachschatz mehr gibt, da dieselben Begriffe in
beiden Systemen unterschiedliche Bedeutungen haben.
Und noch mal mehr, wenn die Methoden der
Überprüfung von der jeweils anderen Seite
als absurd betrachtet werden müssen.
Könnte man sagen, dann lasst uns doch ansehen,
was wirklich dabei herauskommt? Könnten wir
uns darauf einigen, dass wir einfach nachsehen, ob
eine entsprechende Wirkung eintritt, wenn etwas
getan wird, das angeblich diese Wirkung hat? Und ob
es überhaupt davon abhängt, oder ob diese
Wirkung durch völlig andere Dinge ebenso
ausgelöst werden kann, der behauptete
Wirkmechanismus also widerlegt wurde? Nein,
können wir nicht, denn wir können uns
nicht einmal darauf einigen, was
nachsehen oder Wirkung
bedeutet.
Die
höchste Menschenpflicht, meiner Meinung nach,
ist es, sich selbst zu korrigieren, wenn man sich
irrt, und zu erkennen, wo man selbst böse und
falsch handelt. Die oberste Tugend überhaupt
ist, so denke ich mittlerweile, Belehrbarkeit. Die
Bereitschaft, sich belehren zu lassen; gleich
gefolgt von Offenheit und dem Versuch, zu
verstehen, tatsächlich erst mal wahrzunehmen
und dann erst zu interpretieren.
Ich
bin, und werde das auch immer mehr, in meinem
Denken grundsätzlich Naturwissenschaftler.
Wenn eine vorhergesagte Wirkung nicht eintritt, ist
die Wirksamkeit widerlegt; wenn sich belegen
lässt, dass etwas regelhaft eintritt, gilt
diese Regel. Wenn etwas mit dem Zufall
entsprechender Häufigkeit eintritt, war es
Zufall. Es gibt keine Zahnfee.
Es
gibt keinen Weihnachtsmann. Es gibt auch kein
Christkind (allein schon deshalb nicht, weil es am
Karfreitag als erwachsener Mann gekreuzigt
wurde).
You
are the easiest person to fool. Mir ist
bewusst, dass nichts leichter zu täuschen ist
als meine eigene Wahrnehmung; und auch, dass mir
nichts selbstverständlicher und richtiger
erscheinen wird als diese meine Wahrnehmung,
vollkommen unabhängig davon, ob sie richtig
oder falsch ist. Letzteres liegt daran, dass ich
Fehler in meiner Wahrnehmungsverarbeitung nicht
wahrnehmen kann, genauso wenig, wie ich meine
eigene Netzhaut sehen kann. Ich sehe mit meiner
Netzhaut, deshalb ist sie selbst für mich
niemals sichtbar (außer auf einem Bild; aber
dann sehe ich auch nur das Bild, nicht die
eigentliche Netzhaut). Und ganz genau so ist ein
Fehler in meiner Art, die Welt zu interpretieren,
für mich niemals erkennbar, da der
Erkenntnisprozess selbst ja fehlerhaft ist.
Gewissermaßen ist es so, als wolle ich
versuchen, einen Fehler in einem Maßstab mit
genau demselben Maßstab zu finden. Das geht
nicht.
Daher
tendiere ich dazu, überprüfbare und
überprüfte Vorstellungen als mit
erheblich höherer Wahrscheinlichkeit wahr zu
betrachten als aus irgendwelchen Interpretationen
der eigenen Gefühle entsprungene Ansichten.
Hinzu kommt, dass tiefe Wahrnehmungen
bereits Interpretationen sind, jedoch als
Wahrnehmung empfunden werden, da unser
Bewusstsein schlicht und ergreifend nicht so tief
in unsere evolutionär älteren (und daher
stärker tierischen) Gehirnbereiche
hinunter reichen kann. Wir können nicht
zwischen der Außenwelt und unserer
Wahrnehmung derselben unterscheiden, da wir nur
unsere Wahrnehmung haben. Wir können die
Außenwelt nicht an sich, also
ohne eigene Wahrnehmung und Interpretation,
wahrnehmen. Wir sind uns daher niemals bewusst, wie
sehr wir unsere Wahrnehmungen verzerren, auch und
ganz besonders dann, wenn wir versuchen, die
eigentliche Wahrheit dadurch
wahrzunehmen, dass wir Gefühle oder deren
Interpretationen untersuchen. Wir halten diese dann
zwar mit höchster, aber nichtsdestoweniger
absolut falscher Sicherheit für die
Realität an sich, anstatt für
Interpretationen oder Einbildungen. Denn je mehr
wir uns auf unsere Eindrücke und Gefühle
konzentrieren anstatt auf das, was sie
auslöst, desto eher erschaffen wir damit
Einbildungen, die wir dann mit dem Ding an
sich oder seiner wahren Natur
verwechseln, anstatt mit Einblicken in unsere
eigene Gefühlsnatur und
Selbsttäuschungsfähigkeit.
Ein
Dinosaurierfußabdruck aus Stein ist kein
Dinosaurier, sondern ein Sediment, das auf
spezielle Weise geformt wurde (ein Dinosaurier ist
darauf getreten) und dann hart wurde. Der Eindruck
ist nicht das Ding selbst, und er ist immer
verzerrt durch die Eigenschaften des Materials, in
dem er hinterlassen wurde.
Die
wohl schlimmste narzisstische Kränkung der
Menschheit ist, dass wir nach tiefen (oder hohen,
je nach Formulierung) mythischen Erkenntnissen und
Erleuchtungen suchten und mit profanen Fakten und
Tatsachen belohnt wurden. Daher ist es
natürlich eine sehr angenehme
Selbsttäuschung, zu glauben, wir könnten
die Dinge als das betrachten, was sie
wirklich sind anstatt nach ihrer
äußeren Hülle (oder
auch äußeren
Erscheinung).
Tatsächlich
betrachten wir dann ausschließlich unsere
Gefühle und Wünsche. Die Dinge betrachten
wir dann gar nicht mehr, weder ihr wahres
Wesen, noch ihre äußere
Erscheinung. Schlimmer noch, je mehr wir
unser eigenes Gehirn verstehen, desto mehr
verstehen wir unsere (unbewussten)
Selbttäuschungsmechanismen, unsere
Einschränkungen und unsere Manipulierbarkeit.
Der Eindruck der Selbstauflösung
nach einer langen Meditation wird beispielsweise
durch eine punktuelle Sauerstoffunterversorgung
erzeugt.
Mir
ist klar, wie schwierig das den Umgang mit
Wissenschaft macht:
Wissenschaft
ist nämlich keine höhere mythische
Erkenntnis, sondern lediglich eine
menschengemachte Interpretation der Tatsachen.
Dabei wird gestritten, sich geirrt und ausprobiert,
bis sich herausstellt, dass die Ideen zu
(ausreichend) passenden Vorstellungen führen.
Ideen ändern sich, neue kommen hinzu und wir
lernen ständig weiter. Es fehlt die Arroganz,
die Behauptung aufzustellen Ich habe das so
erlebt, also ist es auch so und kann nicht anders
sein.
Sir
Karl Popper, ein Wissenschaftsphilosoph, hat das so
beschrieben, dass Säulen in den sumpfigen
Untergrund gerammt werden, bis ausreichender Halt
vorhanden ist. Ja, das ist schwierig, und ja, das
bedeutet die Bereitschaft, bereits vorhandene
Überzeugungen zu ändern und neuen
Erkenntnissen und Entdeckungen anzupassen. Mir ist
durchaus klar, dass das weh tut; es gibt nur wenig,
das unangenehmer ist als die eigene, liebgewonnene
Meinung aufgeben zu müssen, bloß weil
sie widerlegt wurde. Das ist ja auch der Grund,
warum Erkenntnis niemals eine Einzelsportart sein
kann: Sie benötigt die Überprüfung
durch andere, oder wenigstens durch möglichst
unbeeinflusstes Ausprobieren.
Wenn
also jemand daherkommt und behauptet, höhere
oder tiefere Erkenntnisse über das wahre
Wesen der Dinge zu haben, einfach nur, weil
er das so erlebt hat, dann kann ich das beim besten
Willen weder ernst nehmen noch als auch nur
annähernd akzeptablen Weg zur Erkenntnis von
egal was betrachten.
Halt,
nicht ganz: Eine Sache gibt es sehr wohl, für
die dieser Weg geeignet ist. Das ist die Erkenntnis
unserer selbst, unserer Gefühle, unserer
Wahrnehmungen, unserer Überzeugungen. Auch
unsere Gefühle sind durchaus Realität,
und wir sollten niemals so tun, als gäbe es
sie nicht und als würden sie uns nicht
beeinflussen. Also: Diesbezüglich, und nur
diesbezüglich, ist das bewusste und
geübte Wahrnehmen und Erleben wichtig und kann
tatsächlich zu Erkenntnissen führen. Aber
eben nur über mich, den Fühlenden und
Wahrnehmenden, weniger über das, was diese
Gefühle und Wahrnehmungen ausgelöst hat.
(Wohl aber darüber, was es genau in mir
ausgelöst hat!)
Ein
letzter Gedankensprung: Wie passt das in diese
Zeitung, in diesen Verein?
Wie
passt diese Weltsicht, nach der durch
Überlegung, Ausprobieren, Dazulernen und
Hinterfragen seiner eigenen Erlebnisse die Welt
erkannt werden kann, nicht jedoch durch
Überhöhung der und Hineininterpretieren
in die eigenen Erlebnisse, zu dem, was hier sonst
geschrieben wird ?
Genau:
Gar nicht.
Und
damit wird auch der Titel klarer, hoffe ich: Ich
stehe vor verschiedenen Möglichkeiten, die ich
keinesfalls wählen möchte.
Einerseits
kann ich es mit mir selbst nicht vereinbaren, als
Proponent einer Denkweise zu erscheinen, die ich
bestenfalls für einen kompletten Irrtum,
schlimmstenfalls für gefährlichen
Schwachsinn halten muss und die ich nach allem, was
ich in meinem Leben erlebt, erfahren, gelernt und
ausprobiert habe, nur als vollständig auf
Fantasie und Irrtümer gebaut und widerlegt
betrachten kann.
Andererseits
will ich auch nicht eine ostentative Gegenposition
einnehmen, da ich erstens nicht die Kraft
hätte, sie ständig zu erklären und
zu verteidigen, und da ich zweitens nicht Grund und
Ursache einer Spaltung sein möchte. Ich
möchte keinesfalls bewirken, dass sich zwei
Lager bilden, die gegeneinander stehen und einander
bekämpfen. Ebenso weiß ich, dass ich
keine Möglichkeit habe, auch nur einen
einzigen Menschen von egal was zu überzeugen,
unabhängig davon, wie gut ich das belegen oder
argumentieren kann. (Was ich nicht gut kann, das
weiß ich. Aber: Wird eine Aussage falsch,
bloß weil sie von jemandem kommt, der
rhetorisch schlecht ist?)
Ebenso
steht mir die Möglichkeit einer
Versöhnung der Ansichten nicht zur
Verfügung; wenn eine Seite sagt, ein
bestimmtes Objekt sei rot, und die andere Seite
sagt, es sei grün, dann gibt es keinen
Kompromiss. Gut, das ist ein schlechtes
Beispiel, da rot und
grün von unserem Lernen und den
Rhodopsinmolekülen unserer Netzhaut
abhängige Interpretationen sind. Um jemanden
(dessen Namen ich mir leider nicht gemerkt habe) zu
zitieren: Wenn jemand behauptet, er hätte vier
rosa Einhörner in seinem Bad, und ich sage, er
hat keines, dann können wir nicht als
Kompromiss sagen, er hat eben nur zwei rosa
Einhörner in seinem Bad. Weil es eben nach wie
vor keine Einhörner gibt, egal welcher Farbe.
Noch schlimmer wird es, wenn wir uns noch nicht
einmal einigen können, was mit
Einhorn, rosa oder
Bad überhaupt gemeint sein
könnte.
Was
tue ich dann in diesem Verein?
Ich
bin kein Künstler, nicht einmal ansatzweise
ein bisschen. Ich bin höchstens ein wenig
kreativ, das ist alles; ich sehe auch Kunst nicht
als irgendwie erhaben gegenüber anderen
menschlichen Aktivitäten an. Ich bin auch kein
Beziehungsmensch, egal, wie sehr ich es auch
versuchen mag. Ich bin von der Veranlagung her
Lehnstuhlphilosoph, Neugiernase und
Extremgrübler.
Das
passte ganz gut dazu, oder, zugegebenermaßen:
Ich habe mich nicht gewehrt, als sich mein Umfeld
um Vereinsmitglieder erweiterte und ich
aufgefordert wurde, mitzumachen. Es war auch sehr
schön und immer wieder ausgesprochen
erfreulich, erheiternd, anregend und inspirierend,
dabei zu sein, und ich bereue die Entscheidung
durchaus nicht.
Aber
die Y-Kreuzung hat nun einmal zugeschlagen. (Was
für ein dämlicher, poetischer Satz! Eine
Kreuzung, die zuschlägt - ich bitte, sich das
an dieser Stelle bildlich oder noch besser filmisch
vorzustellen!) Ich sehe nicht, wie ich zu dem, was
passiert, etwas Nutzbringendes beitragen
könnte, ich sehe nicht, wie ich mitgehen oder
ja sagen kann, und vor allem möchte ich nicht
gute Beziehungen zerstören, indem ich nein
sage und dagegen arbeite. Aber die Alternative dazu
ist bloß, dass ich zu mir selbst und meinen
Überzeugungen nein sage oder zumindest
schweige. Auch das kann ich auf Dauer nicht; ich
habe es schon viel zu lange getan, fast mein ganzes
Leben lang.
Derzeit
besteht unser Verein aus drei Aspekten: Den
Vereinstreffen, bei denen Dinge besprochen und
diskutiert werden, den Lesungen, zu denen alle
individuelle Beiträge liefern, sowie der
Zeitung, die nach außen hin
repräsentiert, was der Verein ist, denkt und
tut. Allerdings hängen diese drei Aspekte nur
noch sehr wenig zusammen. Ich komme mit den
Diskrepanzen zwischen ihnen nicht mehr zurecht; ich
bin explizit kein Teil einer Vorfeldorganisation
der Anthroposophie und wünsche das auch
niemals zu werden oder als so etwas zu erscheinen.
Und ich bin auch kein Streiter für meine
Weltsicht; ich habe weder Recht noch
Möglichkeit, sie anderen aufzudrängen.
Was also bleibt?
Ganz
einfach: Ich melde mich einmalig hier zu Wort und
bekunde, was ich denke und für wahr und
richtig halte. Und danach halte ich meine Klappe,
damit diejenigen, die keinerlei Lust haben, sich
von mir belehren zu lassen, nicht weiter
belästigt werden.
Falls
es weitergeht und wie es weitergeht, werden wir
sehen; ich werde so oder so an einigen
Änderungen meines Lebens arbeiten müssen.
Sollte der Tag kommen, an dem ich hier wieder etwas
zum Besten zu geben wünsche, werde ich mich
melden. Derzeit sieht es jedoch so aus, dass die
beiden Wege der Y-Kreuzung immer weiter voneinander
fort führen und wir einander mit
verständnislosem Wohlwollen und irritierter
Zuneigung aus der Ferne beobachten können,
aber in absehbarer Zeit keinen gemeinsamen Boden
mehr finden werden.
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