Eleventy.at - Verein - Produkte - Völker - Zeitung: Ausgaben - Themen - Titel - zurückblättern - weiterblättern

G E R D ' s

E L E V E N T Y

W Ü S T E N S C H I F F

Buchtipp

von Thomas

 

Für meinen aktuellen Buchtipp habe ich einen Titel ausgewählt, der ähnlich wie mein letzter ein Phänomen unserer heutigen, etwas aus den Fugen geratenen, Arbeitswelt beleuchtet.

 

Ein junger Paketzusteller für die Post, nicht angestellt, sondern tätig als Einpersonen-Unternehmen für eine Subfirma.
Pro Zustellung 45 Cent, abzüglich diverser Pönalen, Arbeitszeit meistens über 12 Stunden täglich. Soziales Leben fast Null, keine Frau, kaum Freunde.

Eine Akademikerin, tätig als Lektorin an vier verschiedenen Unis und Fachhochschulen, keine fixe Anstellung und auch kaum Hoffnung auf eine.
Mit ca. 1000 Euro pro Monat lebt sie an der Armutsschwelle, an ein Kind ist derzeit nicht zu denken.

Zwei Lebensläufe, die die ehemalige Gründerin der Plattform "Generation Praktikum" und Gewerkschafterin Veronika Bohrn Mena in ihrem Buch "Die neue ArbeiterInnenklasse" beschreibt.

Armut, Ausbeutung und geringe Bezahlung habe es in der Geschichte der Arbeit immer gegeben.
Vor der Digitalisierung waren allerdings vorwiegend die unqualifizierten, schlecht ausgebildeten Arbeiter und manuellen Hilfsarbeiter betroffen.
Jetzt habe sich "die Optik verändert", so die Autorin. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse findet man in allen Branchen, unabhängig vom Ausbildungsniveau und der Berufserfahrung der Arbeitnehmer.

Was alle gemeinsam haben: Eine mangelnde soziale Absicherung, schlechte Bezahlung und vor allem unsichere Zukunftsperspektiven.

.
Ein Blick auf die Situation in Österreich zeigt, dass aktuell 34,6 % instabil beschäftigt sind. Laut Statistik Austria sind das 1,2 Millionen Menschen.
Als "atypisch beschäftigt" bezeichnet man alle Formen, die vom klassischen "typischen" Normalarbeitsverhältnis mit unbefristeter Vollzeit abweichen.

Fast 800.000 Menschen arbeiten in Österreich Teilzeit, vorwiegend Frauen, die zusätzlich noch mit zahlreichen Mängeln der öffentlichen Kinderbetreuung konfrontiert sind. 236.500 haben befristete Verträge, 201.000 sind geringfügig beschäftigt (und müssen sich selbst versichern). 84.900 sind Leiharbeiter, die bei Ausbleiben der Aufträge meistens Richtung AMS geschickt werden und dort auf das geringere Arbeitslosengeld angewiesen sind. 32.500 sind freie Dienstnehmer. Diese sind seit 2008 zumindest sozialversichert, einen arbeitsrechtlichen Schutz (Urlaub, kollektivvertraglicher Mindestlohn, Arbeitszeit,...) gibt es jedoch nur bei Vereinbarung.

In Österreich derzeit nur rudimentär erfasst sind sogenannte "crowd worker", die ohne irgendwelche Absicherung auf digitalen Plattformen vermittelte Kleinstaufträge on demand erledigen. 2017 wurden 300.000 Menschen in Österreich - also rund 8% der Beschäftigten - als Working Poor eingestuft, also trotz Erwerbstätigkeit als arm. Nur etwa die Hälfte der österreichischen Beschäftigten hat über zumindest drei Jahre einen stabilen Arbeitsplatz.

Wer das „Richtige“ studiert, sich anstrengt und bemüht, ein bisschen die Ellbogen auspackt, klettert auch die Karriereleiter hoch, das wurde gerade Jungen eingeimpft, so die Autorin: „Es ist uns beigebracht worden, dass das ein Wettbewerb ist, in dem wir uns befinden, in dem wir selbst dafür verantwortlich sind, dass wir gewinnen und die Leiter hochklettern. Uns ist nicht gesagt worden, dass das ein strukturelles Problem ist.“

Prekäre Arbeitsverhältnisse betreffen Menschen aus allen Altersgruppen und Bildungssegmenten, kommen in jeder Branche vor, so Veronika Bohrn Mena. Es gibt Unternehmen, bei denen es System hat, dass bis zu einem Drittel ihrer gesamten Belegschaft keine regulären Angestellten oder Arbeiterinnen sind, also keine fix Beschäftigten mehr. Sondern einfach Köpfe, mit denen sie jonglieren und die sie nach Lust und Laune einstellen, rauswerfen, höher bezahlen, schlechter bezahlen.

 

Veronika Bohrn-Mena hat in ihrem Buch zahlreiche Betroffene interviewt und dabei festgestellt, dass die prekär Beschäftigten großteils nicht unglücklich über ihre Situation sind; und das, obwohl kaum Aufstiegschancen bestehen, eine unsichere (berufliche und private) Zukunft droht und auch Altersarmut nicht ausgeschlossen ist. Viele haben sich damit abgefunden, dass sie trotz Arbeit kein ausreichend erfülltes Leben führen, andere wiederum verstecken ihre Armut geschickt durch billige Supermarkt-Einkäufe und spartanische Einrichtungen.

Ein weiterer nicht unwesentlicher Aspekt, den die Autorin anführt, ist die „Generation Praktikum“. Die Karotte der Anstellung, des sicheren Jobs, sehen viele vor Augen, wenn sie darauf hoffen, dass auf das Praktikum oder auf den Teilzeitjob etwas Besseres folgt, dass das Prekariat nur eine Phase ist.

Nach 3 Monaten, so wird oft versprochen, wird daraus dann ein echtes Angestelltenverhältnis, mit richtigem Gehalt -
natürlich unter der Voraussetzung, dass es keine Probleme gibt und die Arbeit gut gemacht wird. Wenn also alles passt, nur, es wird nicht passen.

Aus Sicht der Autorin hat aber jeder Anspruch auf eine faire Entlohnung, Selbstverwirklichung im Beruf und auf ein menschenwürdiges Dasein, noch dazu in einer Zeit, in der immer mehr Tätigkeiten durch Computer und Roboter erledigt werden können.

Das Buch „Die neue ArbeiterInnenklasse“ ist eine wichtige Bestandsaufnahme und ein Appell einer Interessensvertreterin, die sich schon lange mit atypischen und prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt. „Die Menschen lassen sich viel zu viel gefallen“, meint Veronika Bohrn Mena im Interview und empfiehlt, sich im Zweifelsfall jedenfalls zu informieren und beraten zu lassen.

 

Dieses Buch liefert nicht nur einen umfassenden Überblick über die Entwicklung von prekärer Beschäftigung in Europa seit den frühen 1980er-Jahren.

Auch betroffene ArbeitnehmerInnen kommen darin zu Wort. Sie berichten von ihrem Leben und Leid mit miesen Jobs und prekären Arbeitsbedingungen.
Mit ihrer Hilfe und durch sie zeigt die Autorin einfühlsam auf, was Hungerlöhne, fehlender rechtlicher Schutz und mangelnde soziale Absicherung für die Betroffenen und ihre Angehörigen tagtäglich bedeuten.

Nicht zuletzt macht das Werk eindrucksvoll deutlich, dass für Arbeitende kein Weg daran vorbeiführt, sich selbst als Kollektiv zu begreifen. Denn sie bilden unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrer Hautfarbe und ihrem Alter eine Gemeinschaft, die mit den gleichen Problemen kämpft. Solidarisches Handeln stellt für lohnabhängige Menschen die einzige Möglichkeit zum Machtausgleich dar. Dieser ist nötig, um ein selbstbestimmtes, sicheres und chancengerechtes Leben für alle durchzusetzen.

 

Die neue ArbeiterInnenklasse von Veronika Bohrn Mena ist am 19.12.2018 im ÖGB-Verlag erschienen, umfasst 208 Seiten und ist unter der ISBN 978-3-99046-406-9 um EUR 19,90 im Buchhandel erhältlich.

Eleventy.at - Verein - Produkte - Völker - Zeitung: Ausgaben - Themen - Titel - zurückblättern - weiterblättern