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Auch
auf die Gefahr hin, dass dem werten Leser
meine Buchtipps langsam langweilig werden,
habe ich diesmal wieder einen Titel
ausgewählt, der zum Themenkomplex
unserer Vereinigung "Heimat - Erde",
Regionalität vs. Globalisierung
passt.
Es
gibt eine Behauptung, die wiederholen
viele Politiker gern.
Handelsabkommen, so lautet sie, sind
grundsätzlich gut für Land und
Leute. Das sagt Bundeskanzlerin Angela
Merkel ebenso wie Wirtschaftsminister
Sigmar Gabriel oder die EU Kommissarin
Cecilia Malmström und alle fügen
dann in immer neuen Varianten hinzu:
Fürchtet Euch nicht! Es ist richtig,
auch künftig Abkommen
abzuschließen, mit den Kanadiern
oder den Amerikanern oder noch ganz
anderen Ländern. Oder kurz gefasst:
Das geplante europäisch-amerikanische
Abkommen TTIP wird gut.
Petra
Pinzler benennt in ihrem Buch
"Unfreihandel: Die heimliche Herrschaft
von Konzernen und Kanzleien" klar und
fundiert die Gefahren, die TTIP, Tisa und
Ceta mit sich bringen. Sie bringt Licht in
die dunklen Hinterzimmer der
Vertragsverhandlungen.
Wer
gegen TTIP ist, muss sich nicht zu den
Globalisierungsgegnern rechnen und schon
gar nicht Amerika hassen: Das ist der
wichtigste Mehrwert, den dieses Buch zu
bieten hat.
Mehr
Freihandel, das bedeutete früher mehr
Mangos, mehr Handys - mehr Wohlstand.
Zumindest im Westen. Doch heute erleben
wir etwas Neues. Abkommen wie CETA, TTIP,
TISA sollen längst nicht mehr nur ein
paar Zölle senken: Die Regeln der
Weltwirtschaft werden gerade umgeschrieben
- zugunsten von Konzernen und Kanzleien.
Hart erkämpfte Umweltstandards und
soziale Errungenschaften werden zu
unerwünschten Handelshemmnissen
umdefiniert und die Privatisierung von
öffentlichem Eigentum wird
unumkehrbar gemacht.
Sogenannte
Schiedsgerichte sollen all das absichern,
indem sie unanfechtbare Urteile gegen
Staaten fällen, deren Gesetze
angeblich den Handel hemmen. Solche
Gerichte gibt es heute schon - und dazu
eine exklusive Clique von
Wirtschaftsanwälten, die daraus ein
Multi-Milliarden-Dollar-Geschäft
gemacht hat. Aber jetzt soll diese
Paralleljustiz endgültig globalisiert
werden, und zwar mit Hilfe der
Europäischen Union - und der
Handelsverträge mit
Nordamerika.
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Möglich
wurde all das, weil in den vergangenen Jahren ein
internationales Schattenregime entstand. Weitgehend
unbeobachtet von der Öffentlichkeit haben
Handelspolitiker und Lobbyisten ihr eigenes
Regelwerk entwickelt. Wie konnte es soweit kommen?
Gibt es noch eine Chance, die Handelspolitiker
wieder einzufangen? Mit sicherer Hand entwirrt
Petra Pinzler ein scheinbar unlösbares
Knäuel aus Strukturen und Interessen und macht
das ganze Ausmaß des Problems erst sichtbar
und verstehbar.
Mit
der Grundsatzfrage, ob Freihandel der Welt mehr
nützt oder mehr schadet, lässt sich laut
Pinzler gar keine Haltung zu TTIP finden.
Wirklicher Freihandel, so man ihn denn will,
lässt sich überhaupt nur durch globale
Abkommen erreichen. Bilaterale Verträge
dagegen, argumentiert die Autorin, sind nicht die
zweitbeste Lösung: Sie schaffen Blöcke
und erreichen so das Gegenteil von dem, was freier
Warenverkehr verspricht. Sie grenzen Dritte aus, in
diesem Fall vor allem China, aber auch viele
Schwellen- und Entwicklungsländer. Sie
verhindern die kleinen Handelskriege und
begünstigen die großen.
Der
letzte Anlauf, eine faire Weltwirtschaftsordnung zu
etablieren, war der Gipfel von Doha im November
2001, gleich nachdem der 11. September die
Verteilung des Reichtums in der Welt wieder zum
Thema gemacht hatte.
Nicht
an mangelnder Einsicht scheiterte der Gipfel, so
Pinzler, sondern an mangelndem Schwung.
Bald
stand wieder anderes im Vordergrund, und gegen den
sehr konkreten Patentschutz für dieses oder
jenes Arzneimittel fiel der abstrakte Anspruch, die
Welt zu retten, nicht mehr ins Gewicht. Weil
Konzerne sich aber nach wie vor darüber
ärgern, dass sie in Detroit und Stuttgart
unterschiedliche Abgasvorschriften beachten
müssen, schlug nach dem Scheitern von Doha die
Stunde der bilateralen Handelsabkommen. TTIP ist
nur das bekannteste von ihnen.
Anders,
als der verschwörerische Titel des Buches
vermuten lässt, sind immer die
Strukturen schuld bei Pinzler, nie
irgendwelche Bösewichter.
Ihre vielen Gesprächspartner dies- und
jenseits des Atlantik tun alle bloß ihren
Job.
Nicht
einmal, dass ein völkerrechtlicher Vertrag so
tief in die Rechtsordnung der Unterzeichnerstaaten
eingreifen soll wie bei TTIP, ist eine teuflische
Idee. Die Dinge müssen irgendwie geregelt
werden. Demokratisch legitimierte Gremien, die
widerstreitende Interessen viel besser auf einen
Nenner bringen könnten, gibt es nicht. So geht
man den Weg des geringsten Widerstands.
Die
Folge ist die Selbstentmachtung der Politik. Wie
bei den meisten TTIP-Gegnern steht auch bei Pinzler
der Investitionsschutz im Zentrum der
Kritik: Nicht nationale Gerichte, sondern private
Schiedsstellen entscheiden im Streit zwischen
Staaten und Investoren. Die Beispiele, wie deren
Schiedssprüche die Umwelt- und
Arbeitsgesetzgebung aushebeln, sind allesamt so
sauber recherchiert, wie man es von einer
Zeit-Redakteurin erwarten darf.
Wer
im Streit um das Abkommen nach schusssicherer
Munition sucht, wird hier fündig. Das beliebte
Argument vom europäischen Mittelständler
etwa, der vor einem vom Volk gewählten Richter
in Alabama keine Chance hätte, widerlegt
Pinzler mit Zahlen: Nie klagt ein
Mittelständler vor einem Schiedsgericht -
immer sind es große Konzerne. Auch ist gar
nicht die parteiische Grundeinstellung der
Wirtschaftsanwälte bei den Schiedsstellen das
Hauptproblem.
Es
ist vielmehr der strukturelle Autismus
von Spezialgerichten aller Art. Deren Arbeit
besteht darin, Verträge auszulegen - ohne
andere, etwa Umwelt- und Arbeitsschutzinteressen
überhaupt in den Blick zu nehmen oder ihre
Urteile in die nationale Rechtsordnung einzupassen.
Uruguay zum Beispiel, befand ein Schiedsgericht,
schütze seine Bevölkerung
völlig
unverhältnismäßig vor
Zigarettenrauch. Das Autismusverdikt trifft nicht
nur private Schiedsstellen, sondern auch das
Schiedsgericht der Weltbank, eine mögliche
zweite Instanz und den Vorschlag der SPD für
einen öffentlichen
Handelsgerichtshof.
Warum
lobbyieren bei alledem so viele seriöse
Politiker für ihre Entmachtung ?
Zwei von ihnen nimmt Pinzler genauer in den Blick:
EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström und
den deutschen Wirtschaftsminister und
SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel.
Statt
aber deren tiefere Motive zu ergründen oder
sich am Zusammenhang ihres Denkens zu versuchen,
verortet Pinzler beide einfach im Kraftfeld der
Interessengruppen um sie herum.
Getriebene sind sie, und dass sie wie
Treiber, wie Überzeugungstäter
herüberkommen, ist bloß Ausdruck ihrer
schauspielerischen
Professionalität.
Es
ist ein ernüchternder, sehr reifer Blick auf
die Politik:
Nie ist ein tückischer Plan das Problem, immer
ist es die fehlende
Gegensteuerung.
Die immer vom Gestalten reden, lassen
alles irgendwie laufen.
Mit
seiner präzisen Analyse weist das Buch
über seinen Gegenstand hinaus und
erklärt, wie Politik im 21. Jahrhundert
funktioniert.
Pinzlers
TTIP-Buch besticht mit seiner Detailtreue und
zugleich mit seinem weiten Blick, der die Zukunft
der Demokratie ebenso umfasst wie die beiden
Kontinente mit ihren kulturellen
Besonderheiten.
Petra
Pinzler,
geboren 1965, studierte Wirtschafts- und
Politikwissenschaft an der Universität zu
Köln und besuchte die Kölner
Journalistenschule.
1994 begann sie in der Wirtschaftsredaktion der
ZEIT.
Von 1998 bis 2001 war sie für die ZEIT
Korrespondentin in den Vereinigten Staaten und bis
2007 Europakorrespondentin in Brüssel.
Seither ist sie Hauptstadtkorrespondentin in Berlin
für den Politik- und Wirtschaftsbereich.
Für ein ZEIT-Dossier zum Thema Freihandel/TTIP
wurde ihr 2014 gemeinsam mit zwei Kollegen der
Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus
verliehen.
Der
Unfreihandel: Die heimliche Herrschaft von
Konzernen und Kanzleien von Petra Pinzler
ist am 25. September 2015 im Rowohlt Verlag
erschienen, umfasst 288 Seiten und ist unter der
ISBN 978-3-499-63105-4 um 13,40 Euro im Buchhandel
erhältlich.
Anm.d.Red.:
Ich finde diesen Buchtipp überhaupt nicht
langweilig, da hier von "menschlichen Problemen",
wie ich sie auch lokal und konkret aus dem
Projekt-Geschäft kenne, die Rede ist.
Vieles erschien mir zunächst so
gewaltig, da ebendiese Probleme globale
Auswirkungen haben. Aber sind dem
Wesen nach
so anders wie jene aus unseren Geschichten
?
Meines
Erachtens liegt nämlich hier
das
Schaffen von
Verständnis
im Vordergrund - und ich denke auch, das
übliche Verhärten der Fronten
hilft keinem.
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