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E L E V E N T Y

I N S EI ... d

Thomas Buchtipp

Auch auf die Gefahr hin, dass dem werten Leser meine Buchtipps langsam langweilig werden, habe ich diesmal wieder einen Titel ausgewählt, der zum Themenkomplex unserer Vereinigung "Heimat - Erde", Regionalität vs. Globalisierung passt.

 

Es gibt eine Behauptung, die wiederholen viele Politiker gern.
Handelsabkommen, so lautet sie, sind grundsätzlich gut für Land und Leute. Das sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel ebenso wie Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel oder die EU Kommissarin Cecilia Malmström und alle fügen dann in immer neuen Varianten hinzu: Fürchtet Euch nicht! Es ist richtig, auch künftig Abkommen abzuschließen, mit den Kanadiern oder den Amerikanern oder noch ganz anderen Ländern. Oder kurz gefasst: Das geplante europäisch-amerikanische Abkommen TTIP wird gut.

Petra Pinzler benennt in ihrem Buch "Unfreihandel: Die heimliche Herrschaft von Konzernen und Kanzleien" klar und fundiert die Gefahren, die TTIP, Tisa und Ceta mit sich bringen. Sie bringt Licht in die dunklen Hinterzimmer der Vertragsverhandlungen.

 

Wer gegen TTIP ist, muss sich nicht zu den Globalisierungsgegnern rechnen und schon gar nicht Amerika hassen: Das ist der wichtigste Mehrwert, den dieses Buch zu bieten hat.

Mehr Freihandel, das bedeutete früher mehr Mangos, mehr Handys - mehr Wohlstand. Zumindest im Westen. Doch heute erleben wir etwas Neues. Abkommen wie CETA, TTIP, TISA sollen längst nicht mehr nur ein paar Zölle senken: Die Regeln der Weltwirtschaft werden gerade umgeschrieben - zugunsten von Konzernen und Kanzleien. Hart erkämpfte Umweltstandards und soziale Errungenschaften werden zu unerwünschten Handelshemmnissen umdefiniert und die Privatisierung von öffentlichem Eigentum wird unumkehrbar gemacht.

Sogenannte Schiedsgerichte sollen all das absichern, indem sie unanfechtbare Urteile gegen Staaten fällen, deren Gesetze angeblich den Handel hemmen. Solche Gerichte gibt es heute schon - und dazu eine exklusive Clique von Wirtschaftsanwälten, die daraus ein Multi-Milliarden-Dollar-Geschäft gemacht hat. Aber jetzt soll diese Paralleljustiz endgültig globalisiert werden, und zwar mit Hilfe der Europäischen Union - und der Handelsverträge mit Nordamerika.

Möglich wurde all das, weil in den vergangenen Jahren ein internationales Schattenregime entstand. Weitgehend unbeobachtet von der Öffentlichkeit haben Handelspolitiker und Lobbyisten ihr eigenes Regelwerk entwickelt. Wie konnte es soweit kommen? Gibt es noch eine Chance, die Handelspolitiker wieder einzufangen? Mit sicherer Hand entwirrt Petra Pinzler ein scheinbar unlösbares Knäuel aus Strukturen und Interessen und macht das ganze Ausmaß des Problems erst sichtbar und verstehbar.

 

Mit der Grundsatzfrage, ob Freihandel der Welt mehr nützt oder mehr schadet, lässt sich laut Pinzler gar keine Haltung zu TTIP finden. Wirklicher Freihandel, so man ihn denn will, lässt sich überhaupt nur durch globale Abkommen erreichen. Bilaterale Verträge dagegen, argumentiert die Autorin, sind nicht die zweitbeste Lösung: Sie schaffen Blöcke und erreichen so das Gegenteil von dem, was freier Warenverkehr verspricht. Sie grenzen Dritte aus, in diesem Fall vor allem China, aber auch viele Schwellen- und Entwicklungsländer. Sie verhindern die kleinen Handelskriege und begünstigen die großen.

Der letzte Anlauf, eine faire Weltwirtschaftsordnung zu etablieren, war der Gipfel von Doha im November 2001, gleich nachdem der 11. September die Verteilung des Reichtums in der Welt wieder zum Thema gemacht hatte.

Nicht an mangelnder Einsicht scheiterte der Gipfel, so Pinzler, sondern an mangelndem Schwung.

Bald stand wieder anderes im Vordergrund, und gegen den sehr konkreten Patentschutz für dieses oder jenes Arzneimittel fiel der abstrakte Anspruch, die Welt zu retten, nicht mehr ins Gewicht. Weil Konzerne sich aber nach wie vor darüber ärgern, dass sie in Detroit und Stuttgart unterschiedliche Abgasvorschriften beachten müssen, schlug nach dem Scheitern von Doha die Stunde der bilateralen Handelsabkommen. TTIP ist nur das bekannteste von ihnen.

Anders, als der verschwörerische Titel des Buches vermuten lässt, sind immer die Strukturen schuld bei Pinzler, nie irgendwelche Bösewichter.
Ihre vielen Gesprächspartner dies- und jenseits des Atlantik tun alle bloß ihren Job.

 

Nicht einmal, dass ein völkerrechtlicher Vertrag so tief in die Rechtsordnung der Unterzeichnerstaaten eingreifen soll wie bei TTIP, ist eine teuflische Idee. Die Dinge müssen irgendwie geregelt werden. Demokratisch legitimierte Gremien, die widerstreitende Interessen viel besser auf einen Nenner bringen könnten, gibt es nicht. So geht man den Weg des geringsten Widerstands.

Die Folge ist die Selbstentmachtung der Politik. Wie bei den meisten TTIP-Gegnern steht auch bei Pinzler der Investitionsschutz im Zentrum der Kritik: Nicht nationale Gerichte, sondern private Schiedsstellen entscheiden im Streit zwischen Staaten und Investoren. Die Beispiele, wie deren Schiedssprüche die Umwelt- und Arbeitsgesetzgebung aushebeln, sind allesamt so sauber recherchiert, wie man es von einer Zeit-Redakteurin erwarten darf.

Wer im Streit um das Abkommen nach schusssicherer Munition sucht, wird hier fündig. Das beliebte Argument vom europäischen Mittelständler etwa, der vor einem vom Volk gewählten Richter in Alabama keine Chance hätte, widerlegt Pinzler mit Zahlen: Nie klagt ein Mittelständler vor einem Schiedsgericht - immer sind es große Konzerne. Auch ist gar nicht die parteiische Grundeinstellung der Wirtschaftsanwälte bei den Schiedsstellen das Hauptproblem.

Es ist vielmehr der strukturelle „Autismus“ von Spezialgerichten aller Art. Deren Arbeit besteht darin, Verträge auszulegen - ohne andere, etwa Umwelt- und Arbeitsschutzinteressen überhaupt in den Blick zu nehmen oder ihre Urteile in die nationale Rechtsordnung einzupassen. Uruguay zum Beispiel, befand ein Schiedsgericht, schütze seine Bevölkerung „völlig unverhältnismäßig“ vor Zigarettenrauch. Das Autismusverdikt trifft nicht nur private Schiedsstellen, sondern auch das Schiedsgericht der Weltbank, eine mögliche zweite Instanz und den Vorschlag der SPD für einen öffentlichen Handelsgerichtshof.

 

Warum lobbyieren bei alledem so viele seriöse Politiker für ihre Entmachtung ?
Zwei von ihnen nimmt Pinzler genauer in den Blick: EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström und den deutschen Wirtschaftsminister und SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel.

Statt aber deren tiefere Motive zu ergründen oder sich am Zusammenhang ihres Denkens zu versuchen, verortet Pinzler beide einfach im Kraftfeld der Interessengruppen um sie herum.
Getriebene sind sie, und dass sie wie Treiber, wie Überzeugungstäter herüberkommen, ist bloß Ausdruck ihrer schauspielerischen Professionalität.

Es ist ein ernüchternder, sehr reifer Blick auf die Politik:
Nie ist ein tückischer Plan das Problem, immer ist es die
fehlende Gegensteuerung. Die immer vom „Gestalten“ reden, lassen alles irgendwie laufen.

Mit seiner präzisen Analyse weist das Buch über seinen Gegenstand hinaus und erklärt, wie Politik im 21. Jahrhundert funktioniert.

Pinzlers TTIP-Buch besticht mit seiner Detailtreue und zugleich mit seinem weiten Blick, der die Zukunft der Demokratie ebenso umfasst wie die beiden Kontinente mit ihren kulturellen Besonderheiten.

 

Petra Pinzler, geboren 1965, studierte Wirtschafts- und Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und besuchte die Kölner Journalistenschule.
1994 begann sie in der Wirtschaftsredaktion der ZEIT.
Von 1998 bis 2001 war sie für die ZEIT Korrespondentin in den Vereinigten Staaten und bis 2007 Europakorrespondentin in Brüssel.
Seither ist sie Hauptstadtkorrespondentin in Berlin für den Politik- und Wirtschaftsbereich.
Für ein ZEIT-Dossier zum Thema Freihandel/TTIP wurde ihr 2014 gemeinsam mit zwei Kollegen der Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus verliehen.

Der Unfreihandel: Die heimliche Herrschaft von Konzernen und Kanzleien von Petra Pinzler
ist am 25. September 2015 im Rowohlt Verlag erschienen, umfasst 288 Seiten und ist unter der ISBN 978-3-499-63105-4 um 13,40 Euro im Buchhandel erhältlich.

 

Anm.d.Red.: Ich finde diesen Buchtipp überhaupt nicht langweilig, da hier von "menschlichen Problemen", wie ich sie auch lokal und konkret aus dem Projekt-Geschäft kenne, die Rede ist.
Vieles erschien mir zunächst so gewaltig, da ebendiese Probleme globale Auswirkungen haben. Aber sind
dem Wesen nach so anders wie jene aus unseren Geschichten ?

Meines Erachtens liegt nämlich hier das Schaffen von Verständnis im Vordergrund - und ich denke auch, das übliche Verhärten der Fronten hilft keinem.

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