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G E R D ' s

E L E V E N T Y

M O L L I G . I S T . S C H Ö N

Thomas Buchtipp

Den aktuellen Titel habe ich nicht zuletzt aus aktuellem Anlass ausgewählt.

 

Ärmliche, mit Flüchtlingen überladene Fischerboote, abgerissene Gestalten in Auffanglagern prägen unser Bild illegaler Immigration - dass die Not Zehntausender auch ein äußerst lukratives Geschäft ist, wird uns dagegen nur schleichend bewusst.

Tatsächlich steht hinter den Menschenströmen, die jedes Jahr nach Europa gelangen, ein riesiges Netzwerk von Schleppern und Schleusern, aber auch hochprofessionellen Geschäftsleuten, denn mit dem illegalen Grenzübertritt lassen sich Milliarden verdienen, kaum weniger als im Drogengeschäft.

Die Autoren haben entlang der Hauptrouten illegaler Immigration recherchiert und lassen die neuen Menschenhändler selbst sprechen: Anwerber und Skipper, Vermieter illegaler Unterkünfte, Geldhändler. Hinter einem raffinierten, extrem flexiblen Netzwerk verbergen sich die Großen des Geschäfts.

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1500 bis 3000 Euro kostet die Fahrt von Tunesien nach Lampedusa ohne gültige Papiere. Das ungewisse Ende dieser Reise hat sich in den letzten Wochen mehrmals auf makabre Weise gezeigt.
Dass die Veranstalter dahinter skrupellose, mafiöse Menschenhändler sind, wissen wir. Oder? „Ich bin entführt, ich stehe mit dem Rücken zur Wand“, berichtet der Kapitän eines Flüchtlingsbootes.

Der Kriminologe di Nicola und der Dokumentarfilmer Musumeci haben mit Geflüchteten ebenso gesprochen wie mit Schleusern und Checkern. Migration ist schon lange Thema der beiden Autoren. Sie kennen nicht nur Routen und Schlupflöcher in die Festung Europa, sondern auch die Hintergründe. Ihre große Reportage ist gut recherchiert und nüchtern aufbereitet. Mit Fallbeispielen leuchten sie eine Welt in unserer Welt aus, von der meist nur die grausame Oberfläche sichtbar wird. Wer darin Opfer ist und wer Täter, entscheidet der Leser.

 

Die Augenzeugenberichte machen klar: Menschenschmuggel ist ein Geschäftsmodell, das zwar eigene Regeln kennt, aber nach den Marktgesetzen des Kapitalismus funktioniert.
Werden die Hürden für die Flüchtlinge erhöht, Grenzkontrollen verschärft, Zäune und Mauern gebaut, dann steigt der Preis.
Angesichts der Krisen und Kriege an den Rändern Europas, in Afrika und im Nahen Osten floriert das Geschäft. Die Nachfrage wächst stetig.

Auf der Basis der illegalen Einwanderung hat sich eine ganze Industrie entwickelt, die Lösungen für unterschiedliche Bedürfnisse anbietet:
von der Flucht auf einem armseligen Fischerboot bis zur Luxusreise auf einer Jacht mit gefälschten Papieren.

Anhand von Ermittlungsakten, Telefonmitschnitten und Interviews zeigen die Autoren, wie die Schleuser operieren, wie die Geldströme fließen und wer die Fäden zieht. Aus zahlreichen Mosaikstücken rekonstruieren sie die "Karriere" des Kroaten Josip Loncaric, der über Jahre 90 Prozent der chinesischen Immigration nach Europa dirigiert haben soll. Und der mittlerweile untergetauchte Türke Muammer Küçük soll die illegale Einwanderung im Mittelmeerraum kontrolliert haben.

"Hinter jedem Flüchtling, der in Italien oder einem anderen EU-Land ankommt, hinter jedem notleidenden Gesicht, das uns von den Titelseiten der Zeitungen entgegenblickt, steht ein reicher Geschäftsmann, der von ihm 1.000 bis 10.000 Euro eingesackt hat", schreiben Andrea Di Nicola und Giampaolo Musumeci. "Dieses Buch handelt von den größten und erbarmungslosesten 'Reiseveranstaltern' der Welt."

Man müsse sich, so die Autoren, von der Vorstellung verabschieden, bei Schleusern handle es sich um kleine Gauner. In Tat und Wahrheit handle es um eine höchst geschäftstüchtige Branche. „Ihr Geschäft beruht auf Vertrauen und dem gegebenen Wort. Und strukturiert sich dabei blitzschnell neu: Ist das eine Netzwerk aufgeflogen, bildet sich auf der Stelle ein neues.“

Da ist zum Beispiel Aleksandr, Kapitän, 1971 in Sibirien geboren. Er wurde übers Internet rekrutiert. Er weiss über seine Arbeitgeber nichts, diese jedoch fast alles über ihn. So ist das prinzipiell in diesem Geschäft: die Drahtzieher bleiben im Dunkeln. Sie sorgen dafür, dass nicht auf sie zurückgeschlossen werden kann. Nach Monaten des Wartens (weil gerade hundertzwanzig Flüchtlinge ertrunken sind, hat die Polizei die Kontrollen verschärft), führt Aleksandr ein Boot mit einunddreißig jungen Männern aus Afghanistan und Irak nach Apulien über. Er wird verhaftet und muss für vier Jahre und acht Monate ins Gefängnis.

Die Kapitäne, lernt man in diesem Buch, sind die kleinen Fische, die den staatlichen Fahndern zum Frass vorgeworfen werden.
Und dass die Flüchtlingsströme aus Syrern, Kurden, Afghanen und Pakistani alle im Süden der Türkei landen.
Und es deshalb in Istanbul mehrere von auf Menschenschmuggel spezialisierte Organisationen gibt.

Anschaulich schildern die beiden Autoren dabei die Rolle der Akquisiteure, der Kapitäne und der Koordinatoren. Und was macht eigentlich die Polizei? Dazu meint ein Kapitän: „Die haben schließlich auch Familie, oder? Sie haben Angst. Hinterher haben sie gerade Feierabend gemacht und kriegen noch ein Messer zwischen die Rippen. Oder ihre Frau wird bedroht. Ich bin hier wer, so viel habt ihr kapiert, oder?“

Die Autoren zeigen auch, wie raffiniert südamerikanische Schleuser vorgehen: da kommen etwa Reisegruppen für sieben Tage nach Europa. Die Hotels in Bologna, Rom und Florenz werden im Voraus bezahlt, der Flug nach Mailand sowie der Rückflug nach Asunción, Paraguay sind gebucht. So weit so gut. Wo liegt das Problem? Nun ja, gebucht wurde zudem für dieselbe Zeit ein Einfachflug von Italien nach Spanien. „Wer die italienischen Grenzkontrollen einmal hinter sich hat, kann sich in den sechsundzwanzig EU-Ländern, die dem Schengenraum bisher beigetreten sind, frei bewegen.“Noch raffinierter als die südamerikanischen gehen die chinesischen Schleuser zu Werke. Und davon liest man in den gängigen Medien so ziemlich gar nie etwas. Dafür jedoch in diesem Buch - ein guter Grund, es zu lesen.

 

Andrea Di Nicola lehrt als Kriminologe an der Universität Trient.
Als Experte für organisierte Kriminalität war er an allen großen nationalen und internationalen Studien beteiligt und arbeitet für die UN, die Europäische Kommission, das Europaparlament, den Europäischen Rat und andere Organisationen.

Giampaolo Musumeci ist Fotograf und Dokumentarfilmer, Journalist und Radiomoderator.
Für sein Spezialthema Immigration hat er weltweit recherchiert und für zahlreiche internationale Medien gearbeitet, u.a. die ZEIT.

 

Bekenntnisse eines Menschenhändlers, Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen ist am 11.02.2015 im Verlag Antje Kunstmann erschienen,
umfasst 180 Seiten und ist unter der ISBN 978-3-95614-029-7 um EUR 19,50 im Buchhandel erhältlich.

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