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G E R D ' s

E L E V E N T Y

H E R R L I C H T

Thomas Buchtipp

In meinem aktuellen Buchtipp greife ich auf einen etwas älteren Titel zurück, der jedoch in den Jahren nichts an Aktualität und Brisanz eingebüßt hat.

 

Was denkt China ?
In Zeiten, in denen China überall als neue Welt- oder sogar Supermacht gehandelt wird, scheint dies von höchstem Interesse.

Mark Leonard ist dieser Frage in seinem Buch nachgegangen.

In seinem ersten Buch "Warum Europa die Zukunft gehört", das ich bereits in einer früheren Ausgabe unseres Organs Sommer 2007 (damals noch in PDF) vorgestellt habe, hat er eher visionär die weltweite Anziehungskraft des europäischen Modells herausgestellt.

Das diesmal ausgewählte Buch handelt nicht vom Gedankengut des chinesischen Volkes oder der Mentalität chinesischer Unternehmer, sondern von der großen Politik. Leonard bezeichnet sich selbst als "Zufallssinologen", der aufgrund des Phänomens, dass sämtliche globalen Probleme gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine "chinesische Dimension" erhielten, auf China aufmerksam wurde. Infolge einer Gastprofessur an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (CASS) geriet er in einen intensiven Austausch mit am Politikformulierungsprozess beteiligten chinesischen Intellektuellen.

Konkret beinhaltet sein Buch die Vorstellungen chinesischer Denker zu den Themen Wirtschaftspolitik, politisches System (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit) und Außenpolitik beziehungsweise internationale Politik. Im Schlusskapitel geht er auf Chinas gegenwärtige Rolle auf globaler Ebene ein.

Zum Thema Wirtschaft erfährt der Leser, dass es in der Wirtschaftspolitik nicht nur in Deutschland und den USA, sondern auch in China, trotz Einparteienherrschaft der KP, "Lager" gibt. In Kurzform heißt das: nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 spaltete sich das Lager der Reformer in die "Neue Rechte" und die "Neue Linke". Die neue Rechte, zu denen der VWL Professor Zhang Weiying zählt, hält an einer Entwicklung in Richtung freier Marktwirtschaft fest, wohingegen die neuen Linken, zu denen Wang Hui, ein Ökonom der Tsinghua-Universität, gehört, zwar ebenso für Wirtschaftswachstum eintreten, dies allerdings unter einer stärkeren Berücksichtigung von sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz.

Beim Thema Demokratie gibt es ebenso verschiedene Sichtweisen:
Yu Keping, ein inoffizieller Berater Hu Jintaos, hält eine schrittweise Demokratisierung von unten für sinnvoll und experimentiert damit innerhalb der Partei in der Gemeinde Pingchang in Sichuan.
Pan Wei hingegen lehnt Demokratie für China ab und meint, dass Taiwan mit seiner relativ gut funktionierenden Demokratie nicht etwa ein Vorbild sei, sondern aufgrund seiner Unabhängigkeitsbestrebungen eher als abschreckendes Beispiel diene. Die Erfahrungen vieler Chinesen während der Kulturrevolution mit "direkter Demokratie" in Form von Anarchie sowie der Zerfall der Sowjetunion trügen ihr übriges zur Ablehnung einer Demokratie nach westlichem Vorbild bei.
Pan Wei favorisiert die Einführung von Rechtsstaatlichkeit ohne Demokratie, was Wang Hui mit dem Hinweis verwirft, dass die Reichen die Justiz und Teile der Regierung im Würgegriff hätten. Daher seien politische Reformen auf lange Sicht hin unabdingbar. Wenn es der Herrschaft der Partei und der Stabilität des Staates nützt, soll es aber nach Pan Wei auf lokaler Ebene durchaus mehr Mitbestimmung in Form von öffentlichen Anhörungen oder durch Umfragen geben dürfen, womit gegenwärtig in einigen ausgesuchten Städten und Gemeinden experimentiert wird, zum Beispiel in der unmittelbar regierten Stadt Chongqing und der Gemeinde Zeguo in Zhejiang.

Was denkt China über die Außenpolitik und sich selbst als internationalen Akteur ?
China misst gerne seine Macht im Vergleich zu anderen Staaten. Einig sind sich alle Denker darüber, dass China seine umfassende nationale Macht vergrößern sollte. Über die Methoden zur Erreichung dieses Ziels herrscht aber Uneinigkeit: Die liberalen Internationalisten wie Zheng Bijian treten für einen friedlichen Aufstieg Chinas ein, die chinesischen "Neocons" oder "Neokomms" wie Professor Yan Xuetong, Direktor des Instituts für internationale Beziehungen an der Tsinghua-Universität in Peking, sehen die USA als größten Feind und kritisieren das "Appeasement" der Liberalen. In der Mitte befinden sich Pragmatiker wie Wang Jisi, welche statt von "Aufstieg" lieber von "Frieden und Entwicklung" als außenpolitischer Doktrin sprechen.

Im letzten Kapitel zeigt Leonard, warum es schon heute wichtig ist, zu wissen, was in China gedacht wird:
Das chinesische Entwicklungsmodell, wonach Wirtschaftsreformen vor (oder auch ohne) politischen Reformen erfolgen können, wird als Vorbild nach Afrika, in asiatische Regionen und nach Südamerika exportiert. Besonders in autokratischen Regimen ist das chinesische Modell beliebt, da es den Herrschenden Wirtschaftswachstum bei Beibehaltung der Diktatur verspricht. Westliche Entwicklungshilfe oder Hilfen des Weltwährungsfonds, welche meistens an politische Reformen gekoppelt sind, verlieren hingegen ihre Attraktivität. Durch Chinas regionale Kooperation mit dem ASEAN-Regional Forum und der Shanghai Coorporation Organization (SCO) bildet es außerdem einen Gegenpol zu den Hegemonialansprüchen der USA und der westlichen Welt. China gewinnt also nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch an Einfluss.

 

Auch wenn in Zukunft nicht unbedingt weltweit statt Hamburgern mantou oder jiaozi gegessen werden und CNN nicht von CCTV verdrängt wird, so hält Leonard es durchaus für möglich, dass ein größeres Interesse der Weltöffentlichkeit an den innerchinesischen politischen Debatten und Kandidaten für hohe Staatsämter entstehen wird.

Abschließend lässt sich sagen, dass das Buch einen guten Überblick über fast alle aktuellen politischen Themen Chinas bietet und zum Nachdenken anregt.

Mark Leonard ist Direktor für internationale Politik am Center for European Reform in London. Seine Arbeit umfasst die transatlantischen Beziehungen, den nahen Osten und die Beziehung zwischen der EU und China.Wie bereits erwähnt war er auch Gastprofessor an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften in Peking. Er hat sich bereits in jungen Jahren den Ruf erworben, einer der interessantesten Denker in globalen Fragen zu sein, ist gesuchter Kolumnist in führenden Medien und berät Regierungen und Unternehmen.

"Was denkt China" ist im September 2009 im Deutschen Taschenbuch Verlag (dtv) unter der ISBN 978-3-423-24738-2 erschienen, umfasst 196 Seiten und ist um EUR 15,40 im Buchhandel erhältlich.

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