Eleventy.at - Verein - Produkte - Völker - Zeitung: Ausgaben - Themen - Titel - zurückblättern - weiterblättern

G E R D ' s

E L E V E N T Y

5 1 / 1 5

Ist die Religion nur eine Abstraktion ?

Betrachtungen an Hand von Aussagen eines der renommiertesten Islam-Experten Amerikas

Im Sinne des anfangs angeführtem Vermitteln aus Verständnis, das mir für einen österreichischen Charakter am stimmigsten erscheint, haben wir uns in den letzten Jahren mit den drei abrahamitischen Religionen, insbesondere mit dem Islam, beschäftigt. Dies auch durch den Erfahrungshintergrund von

"Mach einen Schild aus Wissen, denn es gibt nichts, was dich besser schützt vor Leid und Kummer.
Der Mensch, der einen solchen Wissensschild besitzt, der wird nicht leiden unter Schicksalsschlägen !“

Nasir-i Chusrau

In Grün kommt also die Ansicht von Hamid Dabashi - ein iranisch-amerikanischer Intellektueller, welcher zu den renommiertesten Islam-Experten zählt.
In Blau, wie die Texte der Artikel sonst, kommen unsere Betrachtungen dazu.

 

Historisch gesehen ist der Anteil arabisch-muslimischer Einwanderung in die USA minimal, geradezu winzig im Vergleich zu anderen Gruppen. Außerdem kommen arabische Muslime aus wirtschaftlichen Gründen in die Vereinigten Staaten. Das Kapital ist meiner Meinung nach farbenblind und geschlechtsneutral. Die Geschichte feministischer Bewegungen ist in der ganzen Welt mit dem Bedarf nach billigen Arbeitskräften verbunden. Wenn Frauen dann auf den Arbeitsmarkt kommen, fordern sie natürlich auch mehr gesellschaftliche Rechte. Genau das gleiche trifft auf Migranten zu: Sie sind die billigeren Arbeitskräfte. Wenn du also als Libanese, Sudanese, Türke, Iraner oder Pakistani nach Amerika kommst und Arbeit suchst, hat das absolut nichts mit deiner Religion zu tun !

Auf Grund geografischer Gegebenheiten und der extrem viel strengeren Selektion, wer aufgenommen werden darf, existiert in der USA weniger und eine vorselektierte Migration von Muslimen. Europa ist zum arabischen Raum einfach der nächstgelegene Kontinent, und außerdem hat der Islam die Geschichte Europas mitgeprägt, als es noch gar keine USA gegeben hat.
Des weiteren hat sich in den USA genau dies ereignet was in den Augen vieler Österreicher ein Horror-Szenario ist: Quasi die ganze Bevölkerung besteht aus Migranten, die die ursprünglichen Völker nahezu ausgerottet und die Überlebenden davon in Reservate gesperrt hat. Dazu unterschiedlich ist freilich, dass die Einheimischen Amerikas nicht um Gastarbeiter gebeten haben, was unsere Wirtschaft vor gut vierzig Jahren sehr wohl getan hat !

 

Die historische Idee Europas ist ohnehin auf Westeuropa beschränkt. Das Unbehagen Europas mit den Muslimen, die aus Afrika, dem Nahen Osten oder aus Südasien kommen, ist ein historisches Echo seiner Angst vor Europas Osten. Zudem haben wir hier ein Problem, das seit der Rivalität von Österreich-Ungarn mit dem Osmanischen Reich um imperiale Hegemonie besteht - die europäische Angst vor einem islamischen Europa. Aus all diesen Gründen fällt es Europa schwerer, seine Muslime aufzunehmen als den USA.

Europa hat, wie oben erwähnt, genau davor Angst, was den Ur-„Amerikanern“ einst passiert ist. Offensichtlich stellt dies einen blinden Fleck im Bewusstsein der US-Amerikaner dar.
Umgekehrt scheint der Umstand, dass wir einst um die Einwanderer gebeten haben (und es praktisch heute noch tun), ein blinder Fleck in
unserem Gedächtnis zu sein.

 

Europa ist aufgrund seines Wohlstandes ein alternder Kontinent. Deswegen braucht Europa Arbeitskräfte - je billiger, desto besser; das ist die Logik des Kapitals. Diese Arbeitskräfte führen allerdings ihre eigene Kultur im Gepäck. Die europäische Wirtschaft braucht billige Arbeitskraft, aber die europäische Kultur kann sich nicht damit abfinden, dass sie letzten Endes von dieser Arbeitsmigration beeinflusst werden wird.

Das ist das europäische Dilemma: Man will die Arbeiter, aber wenn sie da sind, akzeptiert man sie nicht. Wir erleben also gerade einen Konflikt zwischen Kultur und Kapital. Oriana Fallaci starb mit der Gewissheit, dass ihr Italien nicht mehr das gleiche Land war, in dem sie geboren wurde. Berlusconi setzt Fallacis bitteren Feldzug fort, auch, wenn er ihn nicht gewinnen kann. Für Italien mag Pasta weiterhin das Nationalgericht bleiben, aber die nordafrikanischen Arbeitsmigranten werden ihre Vorliebe für Tahini und Schawarma beibehalten, und dagegen ist Berlusconi machtlos.

Hier achten und respektieren wir die treffende Analyse des Experten: Tatsächlich bitten unsere Geschäftsleute nach billigen Gastarbeitern, auch weil wir Konsumenten dort einkaufen, wo es am billigsten ist. Unser aller Gier hat uns letztlich dieses Problem des Widerspruchs zwischen „Kultur und Kapital“ beschert: Alles möglichst sofort und umsonst haben wollen ! Ihr könnt ja nicht glauben, wie oft mir diese (Wiener) Un-Kultur in meinem Berufsleben begegnet. (Tausche zwei Moscheen gegen teurere PC-Arbeitsplätze, oder dulde drei gegen eine billigere Str@fenlösung ... ? Diese Fragen habe ich meinen Kollegen aus den Fachabteilungen noch nicht gestellt ...)

Nur meine Qualifikation „schützt“ mich vor einem (süd)osteuropäischen oder türkischen Migranten. Wäre ich Putzfrau, oder vielleicht auch "nur" Techniker, sähe das schon anders aus ...

Haben denn die USA überhaupt eine Kultur ? Jedenfalls haben sie mehr Platz, und außerdem sind die Vorstädte abseits vom urbanen Sumpf reinweiß. In Europa hat es bislang keine homogene Kultur oder einen gemeinsamen Gründungsmythos gegeben. Ein dazu entsprechendes „Europa-Bewusstsein“ ist wohl erst im nächsten Jahrhundert zu erwarten.

 

Alle Offenbarungsreligionen, die sich auf Heilige Schriften berufen, wollen die Welt nach ihren Vorstellungen formen. Darauf basiert ihre Identität.

Jemand, der fragt, ob der Islam mit der Moderne kompatibel sei, denkt nicht historisch, sondern essentialistisch. Deswegen ist auch die Frage, ob der Islam mit der Demokratie vereinbar sei, einfach die falsche Frage; und deswegen führen auch alle Antworten darauf in die Irre. Historisch gesehen war der Islam immer wieder in die unterschiedlichsten kosmopolitischen Kulturen integriert - und das nicht etwa aufgrund der Barmherzigkeit der islamischen Doktrin, sondern ausschließlich auf Grund der sozialen Kräfteverhältnisse, innerhalb derer Muslime - wie alle anderen menschlichen Wesen - eingebunden waren.

Dass das kulturelle Umfeld in Europa heute kosmopolitisch ist, lässt sich nicht etwa auf die nachgiebige Toleranz des Christentums zurückzuführen. Nein, es liegt daran, dass der soziale Kontext - vor allem durch das Zeitalter der Aufklärung - das Christentum gezwungen hat, sich an das nicht-religiöse Umfeld anzupassen. Das gleiche gilt auch für das Judentum, und a forteriori für den Islam.

Die Aufklärung hat es nur in Europa gegeben. Damit ist ein Vergleich mit den USA oder mit den anderen Weltregionen ausgeschlossen. Die Praxis hängt an den Leuten und nicht an wirklich abstrakten philosophischen Überlegungen. Unserer Ansicht nach ist die Religion jedoch keine Philosophie, sondern eine Beziehung zwischen Mensch und dem-Gott („religio“ als Bindung). Aus dieser Beziehung, das manchen durch die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott vielleicht sogar ein Urbild von sozialer Beziehung überhaupt zu sein vermag, erwachsen schließlich Impulse für die Beziehungen der Menschen untereinander.

Für uns ist die Religion demnach nicht bloß eine Weltanschauung oder ein „Stand“ am „Markt der Möglichkeiten“.
Es fällt uns auf, dass jener Islam-Experte kein Wort über Gott oder über den Propheten verloren hat. Er mutet uns als liberaler Atheist an, welcher durchaus treffende und zu respektierende Analysen zur Migrationsfrage macht, uns aber, was das Verständnis vom Wesen einer Religion angeht, nicht zu überzeugen vermag.

Eleventy.at - Verein - Produkte - Völker - Zeitung: Ausgaben - Themen - Titel - zurückblättern - weiterblättern