Wie
kann man die Welt verstehen ? Indem
man sich Geschichten über sie
erzählt.
Indem man das, was man weiß, mit dem in
Verbindung bringt, was neu ist und
unbegreiflich.
So funktionieren Mythen. Und so funktioniert dieser
Roman.
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"Du
konntest das Blut sehen" - ein Junge aus
der Siedlung ist auf der Straße
erstochen worden.
Harri und sein bester Freund nehmen sich
vor, den Fall selbst aufzuklären.
Harrison,
elf Jahre alt, ist kürzlich mit
Mutter und Schwester aus Ghana nach London
gezogen.
Er lebt mit seiner Familie in einer
Sozialsiedlung. Hochhäuser, Beton,
Schmutz, Verfall - und klare Grenzen: Die
Kinder wissen ganz genau, welche Orte in
dieser Siedlung von welcher Jugend-Gang
besetzt sind, auf welche Treppe man sich
nie setzen, auf welchem Spielplatz man nie
spielen darf, wenn man nicht dazu
gehört.
Sie
rechnen immer damit, angepöbelt,
bedroht, zusammengeschlagen zu werden -
oder sogar getötet ("gemessert").
Die
detektivische Tätigkeit der beiden
Jungen, halb Spiel, halb ernst gemeint,
ist der rote Faden, der den Roman
zusammenhält, in dem es um das Leben
in der Siedlung geht und um Harris
spezielle Sicht darauf: den Existenzkampf
der Erwachsenen, von denen viele
arbeitslos sind oder Jobs haben, von denen
man kaum leben kann.
Und den der Kinder, der sich in der Schule
und auf der Straße
abspielt.
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Harri
ist ein liebevolles und reflektiertes Kind,
trotzdem bleibt nicht aus, dass er oft "rote Augen"
bekommt, sein Symbol für Wut und Mordlust.
Aber Harri hat außerdem einen fast poetischen
Blick auf die Welt, er kann Dinge wahrnehmen und
schön finden, die andere nicht sehen. Er
stellt sich Fragen über Gott und die Welt und
kommt auf sehr phantasievolle Antworten.
Sein
Detektivspiel nährt sich aus
Fernseh-Serien-Krimis, die er mit seiner eigenen
Lebenserfahrung und seinen Phantasien mischt.
Daraus entstehen oft sehr komische Effekte, so wenn
er versucht, mit gewöhnlichem Klebeband
Fingerabdrücke von irgendwelchen Menschen zu
nehmen, oder erklärt, ein bestimmter Blick
verrate schlechtes Gewissen und damit den
Mörder.
Trotzdem
wird Harri niemals lächerlich gemacht, im
Gegenteil ist er mit großem Respekt
gezeichnet. Unglücklicherweise hat er
irgendwann die richtige Vermutung in Bezug auf den
Täter, und das wird ihm zum Verhängnis.
"Man konnte das Blut sehen" leitet den letzten
Absatz des Romans ein, und dieses Mal ist es Harris
eigenes Blut.
Die
Ich-Erzählung ganz aus Harris
(Kinder-)Perspektive präsentiert sich in
Umgangssprache, durchsetzt von gewalttätigen,
fäkalen und sexistischen Schimpfwörtern,
die weniger er selbst als seine Umgebung verwendet.
Pidgin English, gebrochenes Englisch, entsteht in
kulturell heterogenen Gruppierungen, die keine
gemeinsame Sprache haben. Der Titel spielt
raffiniert mit dem lautlichen Missverständnis
von Pidgin English als Pigeon English,
Tauben-Englisch.
Auch
sprachlich ist der Roman eine ungewöhnliche
Mischung, die erstaunlich gut funktioniert -
Hochachtung vor den Übersetzern !
Und natürlich vor dem ungewöhnlichen
Erstlingswerk insgesamt.
Stephen
Kelman wuchs in Luton, einem Arbeiterviertel in
London auf.
Er schlug sich viele Jahre mit verschiedenen Jobs
wie z.B. als Lagerarbeiter, Altenpfleger und
Verwaltungsgehilfe durch. Da er schon immer
Schriftsteller werden wollte gab er die Hoffnung
nicht auf und schrieb diverse
unveröffentlichte Drehbücher
nacheinander. Mit seinem ersten Romanmanuskript
"Pigeon English" gelang ihm der Durchbruch, er
wurde über Nacht zum begehrten Debütautor
und erlangte internationales Ansehen. Sein Roman
wird in zehn Ländern
veröffentlicht.
Stephen
Kelmans Pigeon English ist im Februar 2011
im Berlin Verlag erschienen, umfasst 304 Seiten und
ist unter der ISBN 978-3-8270-0975-3 um EUR 20,50
im Buchhandel erhältlich.
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