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G E R D ' s

E L E V E N T Y

M I T T E L G R Ü N

Pigeon English

Thomas Buchtipp

Wie kann man die Welt verstehen ? Indem man sich Geschichten über sie erzählt.
Indem man das, was man weiß, mit dem in Verbindung bringt, was neu ist und unbegreiflich.
So funktionieren Mythen. Und so funktioniert dieser Roman.

"Du konntest das Blut sehen" - ein Junge aus der Siedlung ist auf der Straße erstochen worden.
Harri und sein bester Freund nehmen sich vor, den Fall selbst aufzuklären.

Harrison, elf Jahre alt, ist kürzlich mit Mutter und Schwester aus Ghana nach London gezogen.
Er lebt mit seiner Familie in einer Sozialsiedlung. Hochhäuser, Beton, Schmutz, Verfall - und klare Grenzen: Die Kinder wissen ganz genau, welche Orte in dieser Siedlung von welcher Jugend-Gang besetzt sind, auf welche Treppe man sich nie setzen, auf welchem Spielplatz man nie spielen darf, wenn man nicht dazu gehört.

Sie rechnen immer damit, angepöbelt, bedroht, zusammengeschlagen zu werden - oder sogar getötet ("gemessert").

Die detektivische Tätigkeit der beiden Jungen, halb Spiel, halb ernst gemeint, ist der rote Faden, der den Roman zusammenhält, in dem es um das Leben in der Siedlung geht und um Harris spezielle Sicht darauf: den Existenzkampf der Erwachsenen, von denen viele arbeitslos sind oder Jobs haben, von denen man kaum leben kann.
Und den der Kinder, der sich in der Schule und auf der Straße abspielt.

Harri ist ein liebevolles und reflektiertes Kind, trotzdem bleibt nicht aus, dass er oft "rote Augen" bekommt, sein Symbol für Wut und Mordlust. Aber Harri hat außerdem einen fast poetischen Blick auf die Welt, er kann Dinge wahrnehmen und schön finden, die andere nicht sehen. Er stellt sich Fragen über Gott und die Welt und kommt auf sehr phantasievolle Antworten.

Sein Detektivspiel nährt sich aus Fernseh-Serien-Krimis, die er mit seiner eigenen Lebenserfahrung und seinen Phantasien mischt. Daraus entstehen oft sehr komische Effekte, so wenn er versucht, mit gewöhnlichem Klebeband Fingerabdrücke von irgendwelchen Menschen zu nehmen, oder erklärt, ein bestimmter Blick verrate schlechtes Gewissen und damit den Mörder.

Trotzdem wird Harri niemals lächerlich gemacht, im Gegenteil ist er mit großem Respekt gezeichnet. Unglücklicherweise hat er irgendwann die richtige Vermutung in Bezug auf den Täter, und das wird ihm zum Verhängnis. "Man konnte das Blut sehen" leitet den letzten Absatz des Romans ein, und dieses Mal ist es Harris eigenes Blut.

 

Die Ich-Erzählung ganz aus Harris (Kinder-)Perspektive präsentiert sich in Umgangssprache, durchsetzt von gewalttätigen, fäkalen und sexistischen Schimpfwörtern, die weniger er selbst als seine Umgebung verwendet. Pidgin English, gebrochenes Englisch, entsteht in kulturell heterogenen Gruppierungen, die keine gemeinsame Sprache haben. Der Titel spielt raffiniert mit dem lautlichen Missverständnis von Pidgin English als Pigeon English, Tauben-Englisch.

Auch sprachlich ist der Roman eine ungewöhnliche Mischung, die erstaunlich gut funktioniert - Hochachtung vor den Übersetzern !
Und natürlich vor dem ungewöhnlichen Erstlingswerk insgesamt.

 

Stephen Kelman wuchs in Luton, einem Arbeiterviertel in London auf.
Er schlug sich viele Jahre mit verschiedenen Jobs wie z.B. als Lagerarbeiter, Altenpfleger und Verwaltungsgehilfe durch. Da er schon immer Schriftsteller werden wollte gab er die Hoffnung nicht auf und schrieb diverse unveröffentlichte Drehbücher nacheinander. Mit seinem ersten Romanmanuskript "Pigeon English" gelang ihm der Durchbruch, er wurde über Nacht zum begehrten Debütautor und erlangte internationales Ansehen. Sein Roman wird in zehn Ländern veröffentlicht.
 

Stephen Kelmans Pigeon English ist im Februar 2011 im Berlin Verlag erschienen, umfasst 304 Seiten und ist unter der ISBN 978-3-8270-0975-3 um EUR 20,50 im Buchhandel erhältlich.

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