Eleventy.at - Verein - Produkte - Völker - Zeitung: Ausgaben - Themen - Titel - zurückblättern - weiterblättern

G E R D ' s

E L E V E N T Y

F R Ü H L I N G . 2 0 0 9

Errungenschaft Religionsfreiheit

Alleine schon die etwa hundert Konfessionen und Ausprägungen der drei abrahamitischen Religionen, welche an dem Einen Gott, welchem kein anderer beizustellen ist, anknüpfen, zeigen uns schon, dass Religion keineswegs eine einförmige Wahrheit ist. Die (m)eine Form kann (s)ich nur in den Welten meines Seelenlebens entwickeln, und die sei mir, so Gott will, gegeben; aber ich kann diese eine meine Form nicht als Uniform für meine Umwelt verstehen. Was mir gegeben ist, ist auch anderen gegeben. Die wirklich Einigende liegt im Einen Gott - und in der Geschichte Seines Wirkens in und mit uns Menschen.

Diese Geschichte eben ist ja der Grund für die rund hundert Konfessionen, die Orden, Bruderschaften und Freikirchen gar nicht mitgerechnet. Die Menschen haben diese Geschichte eben gebraucht, und sie brauchen sie heute noch. Daher betrachte ich diese Religionen als Geschichte Seines Wirkens, die sich in jedem von uns konkret fortsetzt. Gleich einem organisiertem Vorhaben existieren Meilensteine in Seiner Geschichte in und mit uns (mir), sowie auch in unserer (meiner) Geschichte in und mit Ihm.

Die bekanntesten Meilensteine sind Seine Gesandten und Propheten, sowie die Heiligen Schriften und Gebote, die uns in unserem Zusammenleben helfen können. Mir am Wichtigsten ist dabei Sein Indikativ, ganz im Sinne von „Niemand kommt zum Vater, denn durch mich“ als die Verkörperung des Freikaufenden & Ermöglichenden und darin Er als der stetig Schenkende.

Religion betrachte ich daher stets im Zusammenhang mit Seiner Geschichte in und mit uns, sowie mit unserer Geschichte in und mit Ihm.

*

All dies benötigt wahrlich eine wesentliche Voraussetzung im Zusammenleben - in der Politik - unter uns. Diese Voraussetzung ist vielen von uns zu selbstverständlich geworden, weil sie praktisch unter dem Einflusse des Materialismus, dessen nötige Heiligung und Erhebung aus seinen Niederungen hin zur Liebe zur Mater Erde von Kirchen, Gemeinden und Glaubensgemeinschaften bis heute nahezu ausgeblieben ist, missverstanden wird.

Es ist die Errungenschaft der Religionsfreiheit und nicht jene des Atheismus, welche verfälschenderweise gerne als „Religionsfreiheit“ ausgegeben wird.
Nein, hier handelt es sich um die Freiheit
für die Religion, und auch um die Freiheit der Religion von instrumentalisierten Interessen mancher Lobbyisten.

In Hinblick auf die Diskussionen über eine etwaige Mitgliedschaft der Türkei in unserer EU fällt mir ein, dass da noch nie über die Religionsfreiheit als Teil der Demokratie und als eine Voraussetzung für einen EU-Beitritt gesprochen wurde.

Dazu muss man nämlich wissen, dass die Religion in der Türkei vom Staat instrumentalisiert wird. Es gibt dort eine eigene Aufsichtsbehörde, welche über die Predigttexte der Imame wacht, und dies setzt sich fort bis Deutschland, wo die Imane für die Moscheen von einer „Tochterorganisation“ dieser Aufsichtsbehörde gestellt werden. Man darf sich vorstellen, dass dies die Integration von so manchen Muslimen in Deutschland nicht gerade erleichtert. Wir in Österreich sind da etwas besser dran, denn hierzulande existiert schon aus Zeiten der Monarchie eine anerkannte Glaubensgemeinschaft, was in Deutschland so nicht der Fall ist.

Als Zeitgenossen sind wir aufgerufen, uns nun auch über die Fragen zum EU-Betritt der Türkei auseinander zu setzen. Der Religion soll dabei eine angemessene Bedeutung zukommen, nicht zuletzt, weil davon auch ein Kernland der EU, unser größter Nachbar, betroffen ist. Darin wohnt auch die Chance uns über unsere eigene Identität als Europäer klar zu werden.

Zum Beispiel darin, dass der Staat in der freien Religionsausübung eine neutrale Rolle einnimmt, und die Instrumentalisierung der Religion durch einen Staatsapparat zu ächten ist. Oder auch, dass der säkulare Staat auf die sinnstiftende Kraft von Religion angewiesen ist. Nur aus Vernunft ergibt sich auch kein gutes Miteinander. Deshalb haben wir hier eine säkulare Ordnung, aber keinen säkularistischen Staat.

Mir gefällt es nicht, dass ein Islam in Europa ein platter türkischer Staats-Islam sein soll, und ehrlich gesagt, in Sachen Türkei fürchte ich mich mehr vor einer Militärdiktatur als vor den Kopftüchern an Hochschulen. Auch die Koranschulen machen mir keine Bange. Wir leben hier in Europa auch gut mit Bibelschulen mit ihren etwas emotionaleren Christen, und sogar einige meiner Bekannten oder Freunde sind hiervon hervorgegangen.

Ich halte die Türkei mehr für ein Konstrukt als für einen realen Kulturraum. Dies zeigt sich zum Beispiel im Umgang mit den Kurden, anderen Minderheiten und auch daran, dass eine Schriftstellerin aus der „Türkei“, von der Thomas hier schon ein Buch vorgestellt hat, Instanbul als eigene Region, ähnlich wie Singapur im Verhältnis zum größeren Staat rundherum, sieht. In der Türkei dies offen anzusprechen ist wahrscheinlich schon strafbar.
An sich müssen Konstrukte nicht per se schlecht sein, weil eigentlich viele Staaten (vor allem zentralistsich geführte) Konstrukte sind. Warum wirkt die Türkei also so engstirnig ? Handelt es sich hier um eine Überkompensation in der allzu strengen Verteidigung dieses Konstruktes aus dem vorigen Jahrhundert (das z.B. keine Basisdemokarie kennt) ? Ist dieses Konstrukt nicht mehr lebbar ? Ahnen die Kemalisten schon dessen Ablaufdatum ?

Im Konstrukt Türkei, einst hervorgegangen durch Atatürk und die Generäle um ihm, hat die Religion die ihr zugewiesene Rolle zu spielen, und auch eine ganz bestimmte Form dieser Religion, denn eine andere Variante des Islam, worin Frauen mehr praktische Rechte haben, wird zumindest benachteiligt. Im Ideal-Konstrukt Türkei wurde die Moderne und „Europa“ verordnet, was sich nicht nur durch die Abschaffung der arabischen Schrift geäußert hat.

Wollen wir uns Europa und den Fortschritt verordnen lassen ? Wollen wir einen elitären Idealismus, worin geglaubt wird "das Richtige" mit Gewalt durchsetzen zu müssen ? (Enneagrammisch sehe ich darin eine unerlöste EINS, welche sich in ihrem Stress durch den Islam leiden sieht ...) Kann denn nicht der Andersdenkende an sich respektiert werden, als sich über seine "vom Richtigen" abweichende Meinung zu ärgern ? Das wäre zumindest europäischer.
In Hinblick auf eine EU-Mitgliedschaft der Türkei könnten wir uns daher fragen, wie es uns in solch einem Land gehen würde. Oder andersrum: Wovor hätten wir mehr Angst ? Vor einer Militärdiktatur oder vor einem sichtbaren Islam ? Als Protestant in Wien stelle ich mir diese Frage schon lange, und habe darauf eine Antwort gefunden.

*

Die Instabilität in der Türkei geht vom dominanten Militär aus, und nicht von einer gemäßigten Religion. Wie würden wir Kärntner reagieren, wenn in Wien oder Klagenfurt erwogen wird, die dortige Regierungs- oder Mehrheitspartei zu verbieten ? Soll so ein Land in die EU kommen ? Soll es bei uns auch so zugehen ?

Die Frage nach der Türkei ist auch eine Frage nach uns selbst. Es ist eine Frage nach unserer Geschichte und Errungenschaften, sowie auch nach dem Bedürfnis nach Sicherheit. In der Hinsicht freue ich mich sogar aus Kärnten zu kommen, denn dort wohnt jetzt die Frage für ihre Intellektuellen in Wien, wie sie in ihrem Inneren mit dem jüngsten Wahlergebnis umgehen.

Eleventy.at - Verein - Produkte - Völker - Zeitung: Ausgaben - Themen - Titel - zurückblättern - weiterblättern