Eleventy.at - Verein - Produkte - Völker - Cinque Terre - Zeitung: Ausgaben - Themen - Titel - zurückblättern - weiterblättern

G E R D ' s

E L E V E N T Y

M A R C O S E T T A '

Thomas Buchtipp

Für diesen Buchtipp habe ich ein Buch ausgewählt, in dem die 3 Religionen, mit denen wir und in letzter Zeit intensiver beschäftigt haben, eine tragende Rolle spielen.

Mit dem Geschichtslehrer Omar Jussuf nimmt der erste palästinensische Ermittler der Literaturgeschichte seine Ermittlungen auf. In seinem ersten Fall muss er die Unschuld eines ehemaligen Schülers beweisen, der ein Mitglied der Märtyrerbrigaden an die Israelis verraten haben soll. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.

Matt Beynon Rees ist ein besonderes Wagnis eingegangen. Mit dem palästinensischen Bethlehem wählte er ein nicht einfach zu beschreibendes Terrain für seinen Erstlingskriminalroman, stehen sich hier doch nicht nur Juden und Araber spinnefeind gegenüber, sondern auch die Christen erheben nicht ganz unberechtigte Ansprüche auf den Heiligenstatus der Stadt. Der Gefahr der sakral-geistigen und moralischen Überfrachtung scheint hier kaum Einhalt geboten werden können. Dazu kommt, dass Bethlehem mit drei großen Flüchtlingslagern an seinen Stadtgrenzen nahezu gestraft ist, da sich die verschiedenen palästinensischen Fraktionen in der Stadt bis aufs Blut bekämpfen und eine Gesellschaft produzieren, in der jeder kampfesmüde Palästinenser automatisch zum Kollaborateur der Israelis erklärt wird.

Ein solcher soll es auch gewesen sein, der Luai Abdel Rahman den Israelis ans Messer geliefert haben soll. Kurz bevor ihn der Schutz der Nacht dem elterlichen Haus übergeben konnte, wurde der junge Märtyrerbrigadier hinterrücks erschossen. Aber wer hat Interesse an dem Tod des jungen Mannes: Waren es tatsächlich israelische Scharfschützen, die Luai niedergestreckt haben sollen? Oder ist der junge Mann vielleicht einfach nur Opfer des alltäglichen Bandenkrieges? Hat er sich bei den Märtyrerbrigaden Feinde gemacht und muss nun Blutzoll zahlen? Oder ist er schlicht einer Familienfehde zum Opfer gefallen? Diese Fragen ziehen sich durch den gesamten Roman und werden bis zum Ende mit immer neuen Theorien untermauert.

 

Für die Märtyrerbrigaden steht schnell ein Schuldiger fest: George Saba, ein soeben aus Südamerika zurückgekehrter Christ, den seine familiäre Verbundenheit und die Hoffnung nach einer Verbesserung der Situation in die Heimat gelockt hat. In seinen Worten wird die verzweifelte Liebe zu dem heiligen Boden deutlich, der die Menschen im Nahen Osten mit Würde ausfüllt und am Leben erhält und selbst die einstmals Geflohenen zurückkehren lässt: "Aber irgendwann kommt der Tag, an dem man vom Geschmack echten Hummus, vom Anblick der in gleißendes Sonnenlicht getauchten Hügel, vom Klang der Kirchenglocken und den Rufen der Muezzins träumt. Man vermisst das alles so sehr, dass man die Sehnsucht regelrecht schmecken kann. Dann kommt man zurück, ganz gleich was man dafür aufgibt. Man kann einfach nichts dagegen machen."

Er hat aber auch eine sehr bezeichnende Einstellung zu den religiösen Problemen in seiner Heimat:
„Sehen Sie, es geht mir gar nicht darum, was in diesem Buch (Bibel) geschrieben steht. Weiß der Himmel, um wie viel glücklicher unsere leidgeprüfte kleine Stadt wäre, wenn es keine Bibel und keinen Koran gäbe ! Wenn der berühmte Stern der Weisen aus dem Morgenland - sagen wir - über Bagdad statt über Bethlehem geleuchtet hätte, wäre das Leben hier viel leichter“, erklärte Saba. „Es ist nur so, dass mich diese Bibel an all das erinnert, was sie für mich getan haben.“

In "Der Verräter von Bethlehem" gelingt es dem im walisischen Newport geborenen Matt Beynon Rees, der jahrelang für die New Yorker "Time" als Bürochef in Jerusalem gelebt hat, das besondere und trotz aller Krisen doch irgendwie erhabene Lebensgefühl im Nahen Osten einzufangen: Die Mischung aus unbändigem Stolz und tief-trauriger Melancholie, die sich in den Augen der Menschen spiegelt. Die absurde Mixtur männlichen Chauvinismus und weiblicher Verantwortung. Die Verbitterung der Menschen, die selbst die süßesten Früchte, gewachsen unter der arabischen Sonne, nicht vertreiben können. Die permanenten inneren und äußeren Spannungen der palästinensischen Gesellschaft und die allgegenwärtigen religiösen (Schein)Heiligkeiten der drei großen Religionen geraten dabei keinesfalls in den Hintergrund.

Elias (Priester der Geburtskirche): „Ich habe über unseren Freund George Saba nachgedacht, da fing ich an, die Muslime in unserer Stadt für das zu hassen, was sie George angetan haben. Ich hasse sie wegen ihrer gedankenlosen Orthodoxie und ihrer wahnsinnigen, zwanghaften Bewunderung für das Märtyrertum. Ich bin hier hergekommen, um mich zu Füßen des heiligen Hieronymus daran zu erinnern, das wir Christen auch unsere Wahnsinnigen hatten, die in ihrem Fanatismus alle ablehnten, die anders dachten und an einen anderen Gott glaubten.“

„Ganz zu schweigen von denen, die die Märtyrer fast mehr verehrten als Gott selbst.“, sagte Omar Jussuf.

 

Mit der Verhaftung seines ehemaligen Schülers gibt es für Omar Jussuf, dem ersten palästinensischen Ermittler in der Geschichte der Kriminalliteratur, kein Zurück mehr. Bisher arbeitete er als Geschichtslehrer an einer UN-Mädchenschule. Sein Wissen und seine Lebenserfahrung vereinen das historische Erbe des Flüchtlingsdaseins seines Volkes. Er kennt die melancholischen Geschichten der Alten, die von ihren Olivenhainen im heutigen Israel träumen ebenso wie die militante Penetranz, mit der die Nachfolgegeneration diese Erzählungen missbraucht, um die palästinensische Jugend mit Hass und blinder Wut auf die Israelis zu infizieren. Als Lehrer sieht er seine Mission daher vor allem darin, seinen Schülern eine gesunde Portion Verstand mitzugeben, der sie davor behütet, der blinden Opferwut der Extremisten anheim zu fallen.

Sowohl der nun beschuldigte George Saba als auch die hinterbliebene Witwe des jungen Märtyrers, Dima Abdel Rahman, gehörten zu seinen besten Schülern. Wenn es ein Vermächtnis von ihm geben sollte, dann war es die Hoffnung in George Saba und Dima Abdel Rahman. "Nach all den Jahren des Lehrens und Kämpfens, nach seinen Zweifeln, ob er in der Lage sein würde, etwas im Leben seiner Schüler zu bewegen, bewahrte ihn nur die Hoffnung, dass er tatsächlich in ihrem Leben Spuren hinterlassen hatte, ihnen Wissen, Lebensweisheit und Güte beigebracht hatte, vor völliger Verzweiflung." Als nur wenige Tage nach dem Tod des jungen Kämpfers auch noch dessen junge Witwe Dima geschändet und ermordet wird und George Saba in einem Schauprozess ohne Beweise zum Tod verurteilt wird, steht Jussuf’s Entscheidung fest: Er muss bis zur Bestätigung des Urteils durch den Präsidenten die Hintergründe der beiden Morde an dem jungen Paar herausfinden und den wahren Täter identifizieren, bevor sein Vermächtnis mit seinem ehemaligen Schüler und angeblichen Kollaborateur vor dem Erschießungskommando endet. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Dabei begibt er sich in eine skrupellose und machbesessene Welt, in der jedes Mittel recht ist, um die eigene Position zu verbessern. Einem Anschlag entgeht der private Ermittler nur knapp.

Geschickt hat Matt Beynon Rees in seinen Ermittlerroman die palästinensischen Realitäten eingesponnen. Er beschreibt, wie die gemäßigten Palästinenser den extremistischen Gruppierungen hilflos ausgeliefert sind. Wie diese ihre Kinder und Kindeskinder zu antijüdischen Märtyrern aufstacheln und die palästinensischen Sicherheitskräfte nahezu machtlos sind gegenüber den einflussreichen Familienklans, Terrorgruppen und selbsternannten Freiheitskämpfern. Deren inoffizielle Beziehungen zur Regierung schützt sie vor Strafverfolgung und Ermittlung jeder Art und bindet den offiziellen Sicherheits- und Ordnungskräften die Hände. Unter den extremistischen Kämpfern selbst herrscht eine geheuchelte Verehrung der Anführer, während unter dem orientalischen Teppich der Brüderlichkeit ein Krieg um Macht und Einfluss tobt. Auch die Tiefpunkte der nahen palästinensischen Geschichte nimmt Rees geschickt mit auf und verarbeitet so literarisch die Erlebnisse, von denen er als Journalist noch sachlich berichtet hat. Neben den innerpalästinensischen Machtkämpfen und Lebensumständen finden vor allem zwei Ereignisse expliziten Eingang in sein Buch: Sowohl der Lynchmord zweier israelischer Reservisten vom Oktober 2000 als auch der Rückzug von rund 200 Palästinensern in die Bethlehemer Geburtskirche im Frühjahr 2002 werden indirekt in den Fall um den "Verräter von Bethlehem" aufgenommen. An Kritik an einer Gesellschaft, in der sich die Verbrecher "selbst zum Gesetz machen", indem sie auf ein paar Soldaten schießen und damit zu unangreifbaren Widerstandskämpfern werden, lässt es Rees nicht mangeln. Und so findet auch die absurde Verehrung der so genannten Helden, die sich mit einen Sprengstoffgürtel um die Hüften blindwütig in israelische Menschenansammlungen stürzen, in Rees Debüt eine deutliche Verurteilung.

Jussufs zweiter Fall ist bereits fertig und wird im Gazastreifen spielen.
2009 soll Omar Jussuf in Nablus die Ermittlungen in seinem dritten Fall aufnehmen.

Matt Beynon Rees’ „Verräter von Bethlehem ist am 15. 2. 2008 unter der ISBN 978-3-406-57035-3 bei C. H. Beck erschienen, umfasst 327 Seiten und ist um 18,40 Euro im Buchhandel erhältlich.

Eleventy.at - Verein - Produkte - Völker - Cinque Terre - Zeitung: Ausgaben - Themen - Titel - zurückblättern - weiterblättern